Acht Gründe, die den "Brexit" besiegelt haben, sind von der BBC ermittelt worden. Darunter finden sich: der Bruch zwischen städtischen (für ein Verbleiben) und ländlichen Wählern (gegen die EU). Auch die Kluft zwischen Jung (für) und Alt (gegen). Dazu das emotionelle Thema "Einwanderung". Auch die verlorene Glaubwürdigkeit der politischen Führung. Und die traditionelle Distanz zum europäischen Projekt.
Beim Lesen dieser Gründe ist mir rasch die Parallelität zu unserer Bundespräsidentenwahl aufgefallen. Alle genannten Themen sind auch bei den Wählergruppen für und gegen Van der Bellen und Hofer deutlich geworden. Ähnliche Verhaltensmuster zeigen sich auch - regional nur gering differenziert - in anderen Ländern Europas. Dass diese Bruchlinien besorgniserregend sind, ist offenkundig.
Gerne würde ich noch ein neuntes gesamteuropäisches Phänomen hinzufügen: Bürger in nahezu allen demokratisch regierten Ländern entscheiden heute bei Abstimmungen zunehmend nicht mehr über das Thema, um das es eigentlich geht, sondern aus ganz anderen, aufgestauten Stimmungslagen. Emotion ist in.
Das liegt zum einen an der Politik selbst, die in ihren Giftküchen mehr denn je mit Argumenten lockt, die nicht an Gehirn und Sachverstand appellieren, sondern möglichst das Bauchgefühl ansprechen. Meist ist es die Angst, der Neid, die Wut ...
Es liegt aber zweifellos auch an Medien, die den "Aufreger" mehr suchen und brauchen als die kühle Analyse.
Und es liegt wohl auch an der Überforderung der Bürger, die letztlich außerstande sind, über Themen wie das "Projekt Europa" objektiv und möglichst nachhaltig zu urteilen.
Populistische Symbolpolitik
Jeder Europäer weiß, dass die Briten noch vor einem Jahr ganz anders abgestimmt hätten. Dass sie zuletzt Geiseln einer populistischen Symbolpolitik geworden sind, deren Kurzatmigkeit in eklatantem Widerspruch zur Langfristigkeit der Entscheidung gestanden ist.
Wie oft haben wir gehört, dass wir, die Bürger, an der Wahlurne, "immer recht haben". Mit Verlaub: Das glaube ich nicht mehr. Ich weiß, das klingt stark nach Zweifel an der geheiligten Demokratie, ist es aber nicht. Im Gegenteil: Mich beschleicht das bange Gefühl, dass wir gefährlich an den Grundfesten unseres demokratischen Systems rütteln, wenn Abstimmungen nur noch - oder jedenfalls zu oft - als Chance genützt werden, es "denen da oben" zu zeigen.
Jahrzehnte beruflichen Reisens als außenpolitischer Journalist haben mir immer wieder gezeigt, wie schlecht es sich anderswo lebt - und auf welchen "Inseln der Seligen" wir (auch die Briten, die Deutschen ...) unsere Wut und Angst in die Wahlurnen werfen.
Deshalb: Eine rasche Rückkehr zu mehr Sachlichkeit wäre dringend geboten. Sonst wird sich bald niemand Vernünftiger mehr bereitfinden, ein öffentliches Amt zu übernehmen.
Das aber wäre das Ende der Demokratie.
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