„Wir wissen noch nicht, was in diesen Netzwerken richtig ist“

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Der deutsche Medienpädagoge Markus Gerstmann fordert Eltern und Lehrer auf, sich Neuen Medien wie sozialen Netzwerken stärker zu stellen, um damit umgehen zu lernen.

Verbote von sozialen Netzwerken an Schulen hält der deutsche Medienpädagoge und Sozialarbeiter Markus Gerstmann aus Bremen für sinnlos. Wie sollte mit Schülern gearbeitet werden?

Die Furche: Herr Gerstmann, warum üben soziale Netzwerke im Internet eine solche Faszination auf Jugendliche aus?

Markus Gerstmann: Jugendliche sollten in ihren Familien anwesend sein, wollen aber mit ihren Freunden in Kontakt bleiben. Wir haben das früher über das Telefon gemacht. Jetzt machen das die Jugendlichen über soziale Netzwerke.

Die Furche: Als Ergänzung zum Handy?

Gerstmann: Nein, das Handy wird weiter an Bedeutung gewinnen, weil die neuen Modelle alle Kommunikationsmöglichkeiten bieten. Das wird eine große Herausforderung in der Zukunft: Jetzt haben wir Eltern das noch im Griff, weil die Kinder zu Hause surfen. Wenn es aber üblich sein wird, dass Jugendliche Internet-fähige Handys haben, wissen wir nicht mehr, wann und wo die Kinder ins Internet gehen und was sie dort machen.

Die Furche: Kann man besorgte Eltern beruhigen: Was sind die Vorteile dieser Netzwerke?

Gerstmann: Franz Josef Röll von der Hochschule Darmstadt (Medienpädagoge, Anm.) vertritt die Theorie, dass wir heute in einer veränderten Gesellschaft auch viele schwache Beziehungen haben und brauchen, weil wir eben nicht mehr 40 Jahre mit einem Partner zusammenleben und denselben Job ausführen. Um erfolgreich zu sein in dieser Gesellschaft, müssen wir viele Kontakte haben. Die interessanten Stellen laufen über gute Netzwerke.

Die Furche: Würden Sie sagen, die Vorteile überwiegen die möglichen Risiken wie Mobbing per Facebook oder SchülerVZ?

Gerstmann: Wir müssen damit umgehen lernen. Soziale Netzwerke sind noch so neu, dass wir noch nicht einschätzen können, was richtig und falsch ist. Manche befürchten, Jugendliche geben im Netz zu viel von sich preis. Aber Jugendliche machen dort Identitätsarbeit. Sie probieren aus: „Wie wirke ich auf andere?“ Das ist erschreckend für uns Erwachsene, weil wir einen anderen Begriff von Privatsphäre haben. Den Begriff gibt es nun seit 200 Jahren. Wir können sagen, es ist gut so wie es ist oder wir entscheiden uns, dass wir den Begriff weiterentwickeln und neu definieren.

Die Furche: Dennoch gibt es Probleme, wie eben Cybermobbing. Wie gravierend schätzen Sie das Problem tatsächlich ein?

Gerstmann: Es ist ein Problem! Kinder und Jugendliche probieren einfach aus. Sie glauben, in einem anonymen Netz können sie tun und lassen, was sie wollen. Daher fordere ich, dass wir Erwachsene damit umgehen lernen. Wir versuchen, ihnen etwas beizubringen, von dem wir selbst wenig Ahnung haben. Das wissen die Jugendlichen und denken, sie können machen, was sie wollen.

Die Furche: Gibt es heute mehr Konflikte an Schulen oder verändern sich nur die Ausdrucksformen?

Gerstmann: Es gibt viele Konflikte – die gab es früher auch. Die Kinder von heute haben aber nicht mehr Eltern, die diese Phase in Ruhe durchkämpfen. Daher ist Schulsozialarbeit so wichtig, um die Kinder aufzufangen. Es wird also vieles an die Schule verlagert und damit öffentlich. Daher müssen wir mit den Kindern arbeiten: Was ist faires Miteinander, was ist eine gute Klassengemeinschaft?

Die Furche: Was sollten also Schulen und Eltern konkret tun?

Gerstmann: Internet und soziale Netzwerke müssen zum Thema gemacht werden. Erwachsene müssen akzeptieren, dass Kinder in diesem Bereich mehr Handlungskompetenzen haben, dass wir Erwachsene aber mehr darüber reflektieren können. Beide Kompetenzen müssen zusammengeführt werden. Das heißt: Ich veranstalte sogenannte Schulexpertenkonferenzen: Die Schüler erklären mir, was sie im Netz tun, und dann frage ich, was sie empfehlen würden, wie ein Jüngerer damit umgehen solle. Dann kommen dieselben Argumente, die wir Erwachsene vorschlagen würden. Kommt es aber von ihnen selbst, dann wird das auch akzeptiert.

Die Furche: Viele Schulleitungen sperren solche Seiten auf den Computern der Schulen. Ist das sinnvoll?

Gerstmann: Nein. Denn dann kann ich nicht mit den Schülern arbeiten. Zudem: Viele Schüler wissen längst, wie man solche Verbote umgeht. Nochmals: Sinnvoller wäre es, diese Themen in den Unterricht einzubinden, zum Beispiel in den Ethik-Unterricht: Was ist ein Freund, was erzähle ich über mich? Nicht abstrakt, sondern in die Lebenswelt der Jugendlichen integriert.

Die Furche: Kann man also sagen, dass viele Schulen zu wenig tun und eher mit Verboten reagieren?

Gerstmann: Genau. Viele Lehrer sagen, das falle in den privaten Bereich und sie müssten sich nicht kümmern. Zudem hätten sie keine Ahnung. Ich bin aber der Meinung: Es gibt ohne Medien keine Bildung mehr.

* Das Gespräch führte Regine Bogensberger

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