Wollt ihr uns Juden noch?

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Charlotte Knobloch, Ex-Vorstand des Zentralrats der Juden Derutschlands| kritisiert in der Süddeutschen vehement die Beschneidungsdebatte.

Seit Jahrtausenden beschneiden Juden ihre männlichen Nachkommen. Seit Jahrhunderten geschieht dies auf dem Boden des heutigen Deutschland. Niemand hatte sich dafür interessiert. Bis jetzt. Seit bekannt wurde, dass ein Richter in Köln im Mai das Verdikt "Straftat“ aussprach, ereifert sich die ganze Republik über das Pro und Contra der Entfernung eines winzigen Hautstücks.

Unvermindert tauchen vermeintliche Experten auf und behelligen uns mit ihren medizinischen, juristischen, psychologischen oder moralischen Assoziationen. Die selbsternannten Retter der Säkularität und des deutschen Rechtssystems schwingen sich auf, das vermeintlich brutale religiöse Ritual auf seine Legalität, Modernität und Sozialverträglichkeit hin zu überprüfen. Nicht einmal in meinen Albträumen habe ich geahnt, dass ich mir kurz vor meinem achtzigsten Geburtstag die Frage stellen muss, ob ich den Judenmord überleben durfte, um das erleben zu müssen.(...) Wir ertragen es, dass alternde Literaturnobelpreisträger mit SS-Vergangenheit ihre letzte Tinte dafür opfern, Deutschland und die Welt vor der kriegslüsternen Atommacht Israel zu warnen. Wir ertragen, dass obsessive Weltverbesserer dazu aufrufen, Produkte aus Israel zu boykottieren und Unterschriften sammeln. (...)

Selbstmordattentäter und Prager Erklärung

Wir ertragen, dass die singulären Verbrechen der Nationalsozialisten relativiert werden, selbst in der sogenannten Prager Erklärung, in der einige Bürgerrechtler die Verbrechen des Kommunismus und den Holocaust gleichsetzen.Das alles und noch viel mehr hören wir uns geduldig an. Mehr als das: Wir rechtfertigen und erläutern die deutsche Mentalität gegenüber unseren Familien und Freunden im Ausland. Seit Jahrzehnten erklären wir, warum es trotzdem nicht nur richtig, sondern auch gut ist, in diesem Land zu leben.Erstmals geraten nun meine Grundfesten ins Wanken. Ich frage mich ernsthaft, ob dieses Land uns noch haben will.

Die Freiheit der Religion

Ich frage mich, ob die unzähligen Besserwisser aus Medizin, Rechtswissenschaft, Psychologie oder Politik, die ungehemmt über "Kinderquälerei“ und "Traumata“ schwadronieren, sich überhaupt darüber im Klaren sind, dass sie damit nebenbei die ohnedies verschwindend kleine jüdische Existenz in Deutschland infrage stellen. Eine Situation, wie wir sie seit 1945 hierzulande nicht erlebt haben.

Anders als im Islam ist die Beschneidung im Judentum konstitutiv. Sie ist Kern der jüdischen Identität. (...) Menschen, die offenbar keine Ahnung von der religiösen Bedeutung der Brit Mila, der Beschneidung, haben, die vermutlich niemals mit einem Juden gesprochen haben, wollen uns nun vorschreiben, ob und wie wir unsere Religion ausüben dürfen.

Ich will das nicht mehr stillschweigend hinnehmen. Nicht nach all dem, was wir Juden in Deutschland erleiden mussten. Ich bin auch nicht länger bereit, die Augenwischerei zu decken, bei der vom neuen, frischen, blühenden Judentum in Deutschland geredet wird. Vielleicht gibt es noch 10000 deutsche Juden in diesem Land. Unsere Stammbäume wurden nicht gestutzt. Deutschland betrieb die Brandrodung der jüdischen Familien. Trotzdem leben wir in diesem Land. Trotzdem lieben wir dieses Land. Aber es wird wieder Zeit, dass wir für das Vertrauen, das wir hier wagen, neue Bestätigung erhalten. Ich verlange keine Sonderrechte: Sie sind im Positiven so wenig förderlich wie im Negativen. Aber ich fordere Respekt und ein Mindestmaß an Empathie. Das sollte doch drin sein für die Juden in Deutschland.

Aus Süddeutsche Zeitung, 5. September 2012

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