Zeugen der ABENTEURER

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Karten können Fortschritt dokumentieren, Orientierung geben oder in die Irre führen. Immer aber erzählen sie von Menschen, meint Simon Garfield.

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Karten können Fortschritt dokumentieren, Orientierung geben oder in die Irre führen. Immer aber erzählen sie von Menschen, meint Simon Garfield.

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Anthropologisch betrachtet ist Simon Garfield ein Sammler. Mit rührender Detailliebe suchte der britische Journalist nach Landkarten, und den Geschichten, die sie erzählen. Er stöberte in Bibliotheken und Archiven, Londoner U-Bahn-Schächten und dem Headquarter von Google. Das Ergebnis seiner Suche ist ein 500 Seiten starker Anekdotenband, der vor kurzem auch auf Deutsch erschien. Darin begibt sich Garfield auf eine Entdeckungsreise durch die Jahrhunderte. Er erzählt, warum Amerika nach dem Falschen benannt wurde, wieso kein Mensch jemals die Kong-Berge bestieg, und warum die Niederländer auch heute noch Kartografie-Vorreiter sind. Die FURCHE sprach mit ihm darüber, wie Karten Welt und Weltsicht verändern.

DIE FURCHE: In Ihrem Buch demonstrieren Sie, was wir aus alten Karten ablesen können, das weit über Geografie hinaus geht. Was werden die Karten der Gegenwart unseren Nachfahren über uns erzählen?

Simon Garfield: Wahrscheinlich sehr wenig, weil fast alle Karten heute gleich ausschauen. Sie sind digital und orientieren sich an Google Maps. Noch vor 40 Jahren wurden viele Karten von Hand gezeichnet. Man sah auf ihnen den Menschen, vielleicht die Fehler, die er machte, und konnte ablesen, welche Wertigkeit die Dinge und Orte hatten, die er kartografierte. Bei digitalen Karten ist das anders. In Zukunft werden sie vielleicht etwas über die Geschichte der Kartografie erzählen, aber nicht viel über die Geschichte der Menschen. Lustigerweise gibt es aber die Gegenbewegung, weg von digitalen Karten. Mir kommen immer mehr schrullige Karten unter, ironischerweise finde ich sie im Internet. Die Menschen lieben jedenfalls noch immer gezeichnete Karten, vielleicht auf der Rückseite eines Kuverts, die eine persönliche Geschichte erzählen.

DIE FURCHE: Steckt dahinter auch eine Nostalgie für eine Zeit, in der die Welt übersichtlicher war und auf eine Faltkarte passte?

Garfield: Ich würde es nicht Nostalgie nennen, es ist ein menschliches Urbedürfnis. Wir wollen ein Bild sehen, das uns zeigt, woher wir kommen, und wo wir sind. Eine Weltkarte veranschaulicht, wie klein wir in Relation zum Rest sind, gleichzeitig versichert sie, dass wir Teil von einem großen Ganzen sind.

DIE FURCHE: Auf digitalen Karten ist das Zentrum der Welt immer ein roter Punkt auf unserem Bildschirm, genau dort, wo wir uns gerade aufhalten.

Garfield: Ja, und das fördert eine sehr egozentrische Weltsicht, weil wir den Blick dafür verlieren, wo wir im Gesamtgefüge stehen. Begonnen hat diese Entwicklung aber schon vor mindestens 30 Jahren, seit die Globen sukzessive aus den Schulen verschwunden sind. Und seit wir satellitengesteuerte Navigationssysteme im Auto haben, können wir 500 Kilometer durchs Land fahren, ohne eine Idee zu haben, wo wir gerade sind. Wir folgen einfach einem kleinen Bildschirm. Verstehen Sie mich nicht falsch: Navis sind eine fantastische Erfindung, die uns viel Zeit sparen und mich schon oft davor bewahrt haben, mich zu verirren. Aber wir sollten uns schon fragen, ob wir bereit sind, unsere Orientierung zu verlieren.

DIE FURCHE: Früher gaben Karten nicht nur geografische Orientierung, sondern auch philosophische. Die "Mappa Mundi" von Hereford aus dem 13. Jahrhundert ist übersät mit metaphysischen Botschaften. Gibt es heute noch Karten mit Mandat?

Garfield: Eine Mappa Mundi hätte heute nicht mehr den gleichen Einfluss wie damals, weil wir mehr wissen und mehr reisen. Aber zweifelsohne werden Karten noch heute für politische und auch religiöse Zwecke instrumentalisiert. Es gibt Karten über die Gebiete von Syrien, Irak oder Israel, wo die vermeintlich ursprünglichen Grenzen der einen oder anderen Konfliktpartei recht geben sollen.

DIE FURCHE: Auch Google Maps zeigt in manchen Regionen unterschiedliche Grenzverläufe, je nachdem, von wo aus man die Suche startet. Kann man diese Praxis vergleichen mit historischen Kartenfälschungen, von denen Sie in Ihrem Buch erzählen?

Garfield: Es gibt bestimmt Menschen, die das mit dem absichtlichen Verändern von Ländergrenzen gleichsetzen, das die Portugiesen, Spanier oder Italiener im 16. und 17. Jh. betrieben. Ich war für meine Recherchen bei Google und habe erlebt, dass sie die politischen Herausforderungen sehr ernst nehmen. Als sie anfingen, waren sie weit davon entfernt, ein Kartografie-Unternehmen zu sein. Jetzt sind sie eines, und müssen große Fragen wie diese beantworten. Mir macht auch etwas anderes Sorgen, nämlich dass große Teile der Welt der selben Karte folgen. Stellen Sie sich vor, jemand verwendet sie böswillig Google hat eine riesige globale Verantwortung, die über das Politische und Militärische hinaus geht. Zwar hat man auch früher vorwiegend auf ein paar Karten, wie den Times Atlas, vertraut, obwohl es mehr Auswahl gab. Allerdings bleibt das Gefühl, dass die Macht, Karten zu zeichnen, vielleicht in verantwortungsvolleren Händen liegen sollte als bei den anonymen Menschen von Google Maps.

DIE FURCHE: Das bringt Kartennutzer in ein Dilemma. Wie viel Vertrauen ist Karten gegenüber angebracht?

Garfield: Wir haben eine Art Urvertrauen in Landkarten und tendieren dazu, sie für glaubwürdiger zu halten als Texte oder Worte. Und das, obwohl mein Buch voll ist mit Geschichten von falschen Karten. Trotzdem ist der Glaube an Karten unausrottbar. Heute können wir zumindest darauf vertrauen, dass die Karten halbwegs genau sind. Große Fehler, wie die Annahme, dass Kalifornien eine Insel ist, würden heute innerhalb kurzer Zeit korrigiert werden. Heute können wir darauf vertrauen, dass das Navi uns schlussendlich zum richtigen Ort führt. Kann sein, das es nicht den kürzesten Weg vorschlägt, aber irgendwann kommen wir an. Dramatisch wird es erst, wenn der Akku leer ist - oder wenn wir unser Kartenmaterial lange nicht aktualisiert haben.

DIE FURCHE: Seit 1569 kaum aktualisiert wurde die Weltkarte von Mercator. Obwohl wir wissen, dass sie die Größe der Kontinente verzerrt, verwenden wir sie - mit kleinen Modifikationen - bis heute. Warum hat sie sich durchgesetzt?

Garfield: Es wird kritisiert, dass sie politisch falsch ist, die mächtigen Länder größer darstellt, als sie sind. Trotzdem ist die Mercator-Karte besser ist als die nächstbeste Alternative. Bis jetzt gibt sie uns den verlässlichsten Eindruck davon, wie die Erde ausschaut und macht die Krümmung der Erde für unsere Köpfe am ehesten begreiflich. Dazu kommt die Gewohnheit: Die Sache ist zu groß, als dass die Mehrheit der Menschen eine Alternative akzeptieren wollten.

DIE FURCHE: Was kann sich in der Darstellung einer Welt, in der es kaum mehr weiße Flecken auf der Landkarte gibt, überhaupt noch ändern?

Garfield: Es gibt immer noch unglaublich viel zu entdecken, in der Antarktis, in der Sahara, aber auch in den Teilen, die wir kennen: Die Erde ist in einem stetigen Wandel, Küsten verändern sich, Gebirge erodieren, wir bauen Straßen und Häuser. Unsere Welt kann niemals auskartografiert sein. Und das ist gut so. Anderenfalls würde das bedeuten, dass wir uns nicht mehr entwickeln.

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