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Zur Diagnose und Therapie der Grippe

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Die Grippe (die Bezeichnung Influenza ist gleichbedeutend) ist eine akute Infektionskrankheit, die sich alle zwei bis drei Jahrzehnte epidemisch, wellenförmig, meist von Westen nach Osten fortschreitend, ausbreitet. Die Bezeichnung „Spanische Grippe“ kommt daher, daß während der großen Epidemie im Jahre 1918 die Krankheitswelle vom westlich gelegenen Spanien allmählich in unsere Gegenden vorgedrungen ist. Neben den großen epidemischen Krankheitswellen kommen auch in der Zwischenzeit immer wieder sporadische Fälle vor.

Hier muß ich bemerkenj daß auch bei schönem, trockenem Herbstwetter Grippeepidemien beobachtet wurden. Dies war ja auch im Jahre 1918 der Fall. Der Ausdruck Grippewetter oder Influenzawetter ist demnach nicht wörtlich zu nehmen. Es ist allerdings möglich, daß bei Verschlechterung des Wetters in den Herbst- und Wintermonaten die Grippe noch häufiger und in schwererer Form auftritt.

Der Erreger dieser Infektionskrankheit ist noch nicht einheitlich bestimmt. Der sogenannte Influenzabazillus ist sicher nicht der alleinige Erreger. Man muß jetzt annehmen, daß es sich um eine Mischinfektion mit verschiedenen Virusarten handelt.

Der Krankheitsverlauf ist recht charakteristisch. Schüttelfrost und rasch ansteigendes Fieber sind die ersten Zeichen. Daneben stellen sich - auffallende - -Mattig^ keit, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Kopfschmerzen und besonders Gliederschmerzen ein. Rachen und Zäpfchen sind geschwollen und gerötet, so daß oft Schluckbeschwerden eintreten. Rachenbelege fehlen in der Regel, so daß die Unterscheidung.von der Angina tonsillaris (Mandelentzündung) offensichtlich ist. Der Puls ist beschleunigt, der Blutdruck ist auffallend niedrig. Es findet sich ein weicher, leicht unterdrückbarer Puls. Dieser Blutdruckabsturz erfolgt plötzlich mit Einsetzen des Fiebers. In ganz schweren Fällen, die wir während der Epidemie beobachtet haben, liegt der Patient ganz apathisch, fast bewußtlos im Bett; auffallend ist die Blässe, die Reflexe sind erloschen. Diese unkomplizierte Grippe dauert meist einige Tage, dann fällt die Temperatur ziemlich plötzlich ab, doch der schwache Puls und die Abgeschlagenheit, außerdem ein ausgesprochenes Krankheitsgefühl halten noch einige Tage an. Streng« Bettruhe muß so lange eingehalten werden, als die erwähnten Zeichen der Kreislaufschwäche anhalten. Wenn der Kranke nach der Entfieberung sofort aufsteht und arbeiten will, besteht immer die“ Gefahr eines Zusammenbruchs (Kollaps). Hier ist also große Vorsicht am Platze. Wenn auch die Temperatur am 3. oder 4. Tag wieder normal ist, ist die Kontrolle des Blutdrucks sehr wichtig. Leichtsinniges Verhalten kann unter Umständen zu schwerem, ja tödlichem Kollaps führen.

Auf eine Gefahr muß ich besonders hinweisen. Die Patienten nehmen, um rasch gesund zu werden, nicht selten größere Mengen eines Salizylpräparates, meist Aspirin. Ich sah zur Zeit der Epidemie wiederholt Fälle, wo noch nach solchen größeren Aspirihdosen ein schwerer, ja lebensgefährlicher Kollaps eintrat. Diese Warnung halte ich für wichtig. Die Laien glauben, daß eine Tasse Tee mit Rum und Aspirin den Grippeanfall kupiert Dies ist keineswegs der Fall. Hingegen ist besonders hier die Kollapsgefahr groß. Dies alles ist auch für die ärztliche Behandlung wichtig.

Wir müssen vom Anfang an wegen der Blutdrucksenkung Mittel geben, die den Kreislauf und den Puls heben. Ein solches wertvolles Medikament ist das S t r y c h n i n, in Form von Lösung oder Injektion. Wir haben die segensreiche Wirkung des Strychnins während der Epidemie 1918/1919 schätzen gelernt. Daneben geben wir auch Herzmittel. Die Temperatur künstlich zu drücken hat nicht viel Zweck. Das Fieber ist eine Reaktion, ein Signal der Infekion. Eine kritiklose Anwendung der antipyretischen Mittel (Chinin, Salizyl, Pyramidon u. a.) ist nicht empfehlenswert. Heute haben wir noch wertvolle Medikamente, die sogenannten Antibiotika zur Verfügung, die wir natürlich anwenden werden. Diese Mittel standen uns während der Epidemie 1918 leider noch nicht zur Verfügung.

Während der Grippeerkrankung besteht meist eine starke Appetitlosigkeit; man muß daher dem Kranken das bieten, wonach er Lust verspürt. Eine besondere Diät ist nicht erforderlich, zweckmäßig ist die Zufuhr alkoholischer Getränke nach Geschmack und Gewöhnung. Auch Kranke, die sonst Antialkoholiker sind, vertragen bei der Grippe alkoholische Getränke in verschiedener Form sehr gut. Bei starkem Durst gibt man Fruchtsäfte.

Wenn die Erkrankung nach zwei bis vier Tagen abgelaufen ist, kommt es in den unkomplizierten Fällen zu dauernder Fieberfreiheit. Auf die Symptome in dieser Periode und die notwendigen Maßnahmen habe ich schon hingewiesen.

Eine, mit Recht gefürchtete Komplikation ist die L u n g c n e n t z ü n d u n g, die jedoch nicht gleich zu Beginn der Grippeinfektion, sondern meist nach Ablauf der ersten Grippeattacke auftritt. Daraus ergibt sich ein recht regelmäßiger Ablauf. Nach den ersten Grippetagen fällt die Temperatur zur Norm ab. Anschließend erfolgt abermals ein Temperaturanstieg mit den Zeichen der Lungenentzündung. ■ Der Auswurf ist dabei mit Blut untermischt, nicht rostfarben wie bei der cruppösen Pneumonie, sondern blutigrot. Dieser blutige Auswurf darf aber nicht zuviel beunruhigen, er ist nur ein Symptom der grippösen Lungenentzündung. Die entzündlichen Erscheinungen in den Lungen halten mehrere Tage an, doch kommen auch verschleppte Fälle vor, wobei das Fieber und' die Lungenentzündungserscheinungen meh-tere Wochen anhalten.

Die Diagnose Grippe soll nur dann gestellt werden, wenn die beschriebenen Symptome nachweisbar sind. Nicht jede Angina, nicht jeder Bronchialkatarrh ist eine Grippe. Häufig bestehen bei der Grippe auch Bauchschmerzen und die Bauchwand ist stark druckempfindlich. Kleine Blutungen in der

Bauchmuskulatur sind die Ursache. Symptome von Magen- und Darm- in Form von Verdauungsstörungen sind häufig. Dies kommt ja bei jeder Infektionskrankheit vor. Auf andere Komplikationen, auf die entzfind-lichen Ohrenkrankheiten, will ich nur kurz hinweisen. Bei Ohrenschmerzen muß der Facharzt zugezogen werden.

Ich habe in diesen Ausführungen das Krankheitsbild der Grippe skizziert. Hoffentlich werden sich gegenwärtig und auch in Zukunft die schweren Grippeerkrankungen, die wir in den Jahren 1918/1919 erlebt haben, nicht wiederholen.

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