"Zwei Drittel der alten Menschen werden nicht richtig behandelt" Roman Blindtext und Text

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Franz Böhmer, Ehrenpräsident der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie, über Formen von Altersdiskriminierung und mangelndes Fachwissen.

Bei der medizinischen Versorgung alter Menschen gebe es eine Über- und Unterbehandlung, betont Franz Böhmer, Pionier der Geriatrie in Österreich. Der Internist und Kardiologe war bis zu seiner Pensionierung Ende 2008 Leiter des SMZ Sophienspital in Wien.

Die Furche: Herr Prof. Böhmer, werden in unserem Gesundheitssystem ältere Menschen aufgrund ihres Alters diskriminiert, etwa, indem ihnen medizinische Leistungen vorenthalten werden?

Franz Böhmer: Es gibt sicher eine Über- und eine Unterbehandlung älterer Menschen.

Die Furche: Wie kommt es zu Überbehandlungen?

Böhmer: Eine Überbehandlung liegt vor, wenn ein Arzt glaubt, jede Diagnose, die er stellt, auch behandeln zu müssen. Das ist nicht immer sinnvoll. Wenn man etwa den Arztbrief einer 85-jährigen Frau anschaut, dann stehen dort mindestens zehn Medikamente drauf. Kein Arzt fragt sich, ob er das selbst schlucken würde. Wenn es dann zu Neben- und Wechselwirkungen kommt, wird oft gegen diese Beschwerden ein weiteres Medikament verschrieben. Man soll das Leitsymptom behandeln, das den Kranken in seiner Lebensqualität einschränkt.

Die Furche: Das Zuviel an Medikamenten ist schon lange ein Thema.

Böhmer: Natürlich. Aber Ärzte und Ärztinnen lernen, dass jede Krankheit behandelt werden muss, sonst könnte eine Beschwerde folgen. Das ist ein Dilemma.

Die Furche: Wie kann es zu einer Unterbehandlung kommen?

Böhmer: Ärzte resignieren: Zahlt sich eine Therapie überhaupt noch aus? Es herrscht oft ein mangelnder Glauben an die Potenziale des alten Menschen. Also ein therapeutischer Nihilismus. Beide Bereiche, Über- und Unterbehandlung, kommen sehr häufig vor.

Die Furche: Wie häufig?

Böhmer: Nach meiner Einschätzung ist ein Drittel der älteren Menschen überbehandelt, ein Drittel unterbehandelt und ein Drittel adäquat behandelt.

Die Furche: Zwei Drittel der Älteren, 66 Prozent, werden also medizinisch nicht richtig behandelt?

Böhmer: Ja, ich stehe dazu. In der Berliner Altersstudie - diese ist zehn Jahre alt - sind ähnliche Zahlen herausgekommen.

Die Furche: Wird sich diese Situation zuspitzen?

Böhmer: Ja, aber ich kann noch nicht sagen, in welche Richtung. Wenn die Ökonomen die Oberhand gewinnen, dann wird vermehrt unterbehandelt; wenn die Pharmaindustrie Oberhand gewinnt, dann wird eher überbehandelt.

Die Furche: Was sind die Ursachen für die falsche Behandlung?

Böhmer: Zunächst hat es mit einer allgemein negativen Stellung von alten Menschen in der Gesellschaft zu tun. Eine wesentliche Ursache ist die Ausbildung der Ärzte. Ohne gegen den Ärztestand zu polemisieren, dem ich selbst angehöre: Es gibt in Österreich noch keinen Lehrstuhl oder eine Professur für Geriatrie an einer öffentlichen Universität.

Die Furche: Sie meinen, viele dieser Formen von Fehlbehandlung alter Menschen entstehen durch blankes Unwissen?

Böhmer: Ganz bestimmt. Durch die fehlende universitäre Verankerung gibt es auch noch immer keinen Facharzt für Geriatrie - Österreich ist eines der wenigen Länder in Europa. Die Österreichische Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie bemüht sich seit 15 Jahren darum. Nun aber scheint es vor der Tür zu stehen. Es gibt eine mangelnde Ausbildung der Ärzte, folglich kann man annehmen, dass das Wissen der Ärzte, die alte Menschen behandeln, nicht immer dem State of the Art entspricht.

Die Furche: Dabei sind die älteren Patienten die größte Gruppe.

Böhmer: Natürlich, mit Logik ist das nicht zu erklären, sondern mit Ignoranz, mit standespolitischen Überlegungen und Unwissen. Und natürlich mit dem negativen Image, das ältere Menschen an sich haben. Es fängt in der Familie an: Der alte Mensch traut sich oft nicht zu sagen, dass er gestürzt ist oder inkontinent. Er hat Angst, dass er ins Pflegeheim muss.

Die Furche: Halten Sie es für möglich, dass auch hierzulande Altersgrenzen für gewisse Therapien eingeführt werden, wie anderswo?

Böhmer: In manchen Fällen ist das sogar sinnvoll; nicht alles, was machbar ist, macht Sinn. Wenn man aber Behandlungstherapien stets in Hinblick auf die noch bevorstehende Lebensqualität und Lebensdauer sieht, kann man abschätzen, ob diese sinnvoll sind oder nicht. Ein Beispiel: Ein Prostatakarzinom bei einem hochbetagten Mann zu operieren, wäre bis auf wenige Ausnahmen nicht sinnvoll. Das Karzinom würde die Lebensdauer nicht reduzieren. Es passiert aber trotzdem, vielleicht weil der Patient eine Zusatzversicherung hat? Alterslimitierungen hängen vom individuellen Fall ab. Es gibt bei uns noch keine Rationierung von medizinischen Leistungen; dass zum Beispiel ab einem gewissen Alter keine künstliche Hüfte eingesetzt wird. Aber es gibt eine Ökonomisierung …

Die Furche: … dieser Spar- und Effizienzdruck steigt doch ständig. Kann man wirklich ausschließen, dass Leistungen für Ältere nicht eingeschränkt werden?

Böhmer: Ausschließen kann man es sicherlich nicht. Aber ich möchte es nicht glauben und glaube auch nicht daran. Es gibt viele andere Möglichkeiten, um im Gesundheitssystem Geld einzusparen. Jeder Politiker muss wissen, dass die oberste Maxime lautet: das Verhindern oder Hinausschieben der Pflegebedürftigkeit. Das heißt auch, ich muss jeden optimal medizinisch betreuen. Beispiel künstliches Hüftgelenk: Wird dieses vorenthalten, dann hat der Patient Schmerzen und braucht Schmerzmedikamente; diese schädigen andere Organe. Das bedeutet Folgekosten. Eine Nierenersatztherapie würde viel mehr kosten als eine neue Hüfte.

Die Furche: Wo müsste man anfangen, um die Versorgung älterer Menschen zu verbessern?

Böhmer: Zunächst bei einer Aufwertung des Hausarztes. Dieser ist zu einem Beamten degradiert. Der Hausarzt - der gut ausgebildete und eventuell auf alte Menschen spezialisierte - sollte zum Koordinator des gesamten Betreuungssystems für die Alten werden. Damit würde im Gesundheitssystem sicher viel Geld gespart.

Das Gespräch führte Regine Bogensberger

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