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In Sibirien glauben weder Kommunisten noch Antikommunisten mehr an den Fortschritt.

Sibirien ist das größte Land der Welt. Mit 13 Millionen Quadratkilometern ist es größer als die USA (mit Alaska!) und Westeuropa zusammen. Ein Zwölftel der Landmasse der Erde kennen Japan-Reisende von oben. Mehr als drei Flugstunden schaut man auf die acht Monate im Jahr verschneite Weite hinunter, die durchschnitten wird von drei der größten Flüsse der Erde: Ob, Jenissei und Lena.

Auf dem Landweg durften Ausländer bis vor wenigen Jahren nur unter strengen Auflagen fünf weit auseinanderliegende Städte entlang der Transsibirischen Eisenbahn besuchen. Was Wunder, dass Sibirien mehr in der Vorstellung als in der Wirklichkeit existiert. Das russische Niemandsland hinter dem Ural, das sich 7.000 Kilometer nach Osten über sieben Zeitzonen erstreckt, war schon zu Zarenzeiten "eine unzivilisierte Wüste, in die man Bazillen abschob, die den Staatskörper infizierten: die Kriminellen, die Sektierer, die Oppositionellen...

Heute, wo Moskau der Ansteckung des Westens erliegt, "wird Sibirien zu einem Hort der Reinheit und des echten Russentums stilisiert", berichtet der 1939 in London geborene Schriftsteller Colin Thubron in seinem Buch "Sibirien: Schlafende Erde - Erwachendes Land". Seit den 70er Jahren reist er in die Länder des Ostens: Nach Russland, nach China, kürzlich nach Sibirien. Zunächst gibt er sich selbst Rechenschaft, warum er ausgerechnet Sibirien monatelang durchstreifen wollte, im Zug, bisweilen mit einem der unsicheren russischen Antonow-Flugzeuge, im Bus, zu Fuß: "Es ließ mir einfach keine Ruhe, dass ein ungeheuer großes Gebiet der verbotenen Welt mit einem mal zugänglich war. Die Unermesslichkeit Sibiriens hatte meine sämtlichen Asienreisen überschattet. So kam es, dass die spielerischen Anfänge - der flüchtige Blick in den Atlas - mit der Zeit ernster und gründlicher wurden, bis mir die Wildnis schließlich weniger leer erschien als nicht wahrgenommen. Eine schleichende Anziehung ging von ihr aus."

Ikonen im Untergrund

Erste Station: Jekaterinenburg. Was blieb vom Schauplatz, an dem 1918 die Zarenfamilie ermordet wurde? Ein Trinker und eine im religiösen Wahn befangene Frau geben ihm ihre Antworten. Solche Begegnungen nimmt Thubron zum Anlass, Informationen und Einsichten zu liefern, die weit über eine Reisebeschreibung hinausgehen. Die christlich-orthodoxe Religion kam erst vor 400 Jahren nach Sibirien, als die Kosaken auf der Suche nach dem weichen Gold, den Biberpelzen, immer weiter nach Osten vordrangen. Geheim, in den Familien, gaben vor allem die Frauen die Ikonen in der Zeit des Atheismus weiter und mit ihnen Gebete, die jetzt in den allmählich wiedererstehenden Kirchen eine öffentliche Stimme bekommen.

Fünf Prozent der 30 Millionen Sibirier aber sind "Eingeborene": asiatische Turkvölker. Der Buddhismus, etwa in Ulan-Ude, nördlich der Mongolei, erstarkt jetzt wieder, während die Schamanen, Männer, die eine geheimnisvolle Naturreligion mit großen medizinischen Kenntnissen verbanden, praktisch ausgestorben sind. Ausgestorben sind auch viele seltene Tierarten, denn dort, wo die reichen Bodenschätze gegraben und verarbeitet wurden und werden, sind Böden und Flüsse verseucht. In Akademgorodok, einst dem Stolz akademischer Forschung, einer reinen Universitätsstadt, verfallen ganze Institute: baulich, weil aus Moskau kein Geld mehr kommt, personell, weil alle hellen Köpfe ausgewandert sind. Heruntergekommene Hotels, vernachlässigte Straßen, verarmte Bauern, deren Rentierherden durch die Umweltvergiftung dezimiert wurden, Alte, deren winzige Pension sie als Bettler auf öffentliche Plätze treibt. Hier gingen zwei Welten verloren. Die gläubigen Kommunisten verloren ihren Forschrittsglauben und jene, die auf den nachkommunistischen Aufschwung hofften, ihre Illusionen, weil alles im gleichen Schlendrian weitergeht. Kinder beginnen mit zwölf Jahren zu trinken: "Wir Russen sind zu duldsam, wir Russen. Das ist unsere nationale Schwäche", meint eine Frau, deren Mann, ein Lehrer, seit sechs Monaten ohne Gehalt weiterarbeitet.

Thubron gelangte bis Kolyma im äußersten Nordosten Sibiriens, in die Lagerstadt, in der unter Stalin zwei Millionen Häftlinge umkamen, als sie radioaktives Uran abbauen mussten. Die Lagerruinen starren noch heute aus dem Schnee. Thubrons Russisch-Kenntnisse ermöglichten es ihm, mit vielen Leuten zu sprechen. Dieser begnadete Stilist und Beobachter hat mit seinem Buch einen erschütternden Bericht geliefert.

Sibirien

Von Colin Thubron

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2001

344 Seiten, geb., öS 321.-/e 23,33

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