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1. Mai - morgen

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Im Osten wie im Westen wird unser gesellschaftliches Leben in steigendem Maße vom technisch-wissenschaftlichen Fortschritt abhängig. Die Folge ist ein weitgehend geplantes Leben, durch das der Mensch, für ihn oft kaum erkennbar, wirtschaftlichem Druck und Kon- sumverlockiungen ausgesetzt wird. Der Mensch läuft Gefahr, in einer immer sachlicheren Welt selbst versachlicht zu werden, seine Innerlichkeit zu verlieren.

In Zukunft wird immer mehr Planung erforderlich sein, um das Wirtschaftswachstum im notwendigen Ausmaß sicherzustellen. Wirtschaftsplanung ist an sich inhuman, denn sie muß die menschliche Arbeitskraft und deren Bedürfnisse gleich anderen Planposten einbeziehen. Der Planung müssen aber Schranken gesetzt werden, dort, wo sie das „Menschsein“ gefährdet. Die Notwendigkeit einer Wirtschaftsplanung bringt automatisch Freiheitsein- bußen mit sich. So lange man sich deren Inhumanität bewußt ist und ihnen nur beschränkt oder notgedrungen nachgibt, lassen sich Grenzen abstecken und läßt sich der Gefahrenherd kontrollieren.

Wehe aber, wenn man sich optima ler Wachstumsziele willen der Rationalität in Produktion und Verteilung verschreibt!

Osten und Westen konkurrieren heute im Wohlstandsstreben und werden es weiter in steigendem Maße tun —, schon deshalb, weil Wirtschaftlich fortgeschrittene Ostländer ihren Rückstand gegenüber dem Westen aufholen wollen. Daß es dabei da und dort eine dünne Schicht gibt, die wirtschaftlich und sozial zurückbleibt, wird übersehen, da sie sich durch ihre zahlenmäßige Bedeutungslosigkeit nicht hör- und sichtbar machen kann und daher politisch nicht ins Gewicht fällt: Entscheidend ist das Glück der größten Zahl. Wir sind auf dem besten Wege dazu, daß Zufriedenheit und Glücksgefühl, Glaube und Hoffnung, nicht mehr aus dem ureigensten Empfinden des Menschen kommen, wie es in der Vergangenheit bei religiösen, urwüchsigen oder lebens- und tatenfrohen Menschen der Fall war, sondern suggeriert und manipuliert sein werden.

In einer Welt, in der Roboter, Automaten und Elektronen„hime“ den Arbeitsablauf dirigieren, in der auch die Kontrolltätigkeit automatisch erfolgt, wo dem Menschen nicht nur die Arbeit durch Untätigkeit völlig entfremdet wird, sondern auch seine Konsum- und Vergnügungsbedürfnisse gelenkt werden, würde die gesellschaftliche Selbstentfremdung unmenschlich und ohne stimulierende Mittel untragbar sein.

Der Mensch muß manipuliert werden, um weiterieben zu können. Wahre Religiosität könnte an die äußerste Peripherie menschlichen Eigenlebens verbannt werden.

In der Aufgabe, sich der Versachlichung der Welt und der Verdinglichung des Menschen entgegenzustemmen, können sich, ja müssen sich Kirche und Sozialismus treffen.

Der freiheitliche Sozialismus will die freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit. Nach seinem humanen Gesellschaftsbild muß er frei sein. Zum wahren Menschsein gehört die Innerlichkeit, zur Leuchtkraft des Lebens gehört auch das Übersinnliche, die Transzendenz, ja sie ist bestimmend für den „menschlichen Menschen“. Zur freiheitlichen Gesellschaft gehören die Religionen. Für die Zukunft des freiheitlichen Sozialismus wird seine Haltung zur religiösen Frage entscheidend sein.

Die katholische Soziallehre anerkennt bereits, daß es die Traditionen des Liberalismus sind, die die Sozialdemokratie vor „dem Irrweg des Kommunismus bewahrten und ihr die Basis für die Transformation in den heutigen demokratischen Sozialismus boten“, sie weist aber anderseits darauf hin, daß „Fragen des ,Menschenbildes' und der Kulturauffassung maßgeblichen Gegenstand der heutigen katholischen Sozialismuskritik darstellen“ ).

Man soll nun nicht annehmen, daß sich sozialistische Lehre mit der katholischen Lehre und deren Glaubensregeln integrieren läßt. Es genügt, wenn beide die gemeinsame Verpflichtung sehen, die Welt menschlich au gestalten. Die katholische Kirche erahnt bereits die Größe der Aufgabe in einer kommenden Gesellschaft:

„Es kann nicht die Hoffnung der Kirche sein, daß sich der demokratische Sozialismus verhärtet. Es ist ihre Hoffnung, daß sich auch in der politischen Gruppierung des freiheitlichen Sozialismus der freie Raum für das dienende Mitsein der Kirche mit der menschlichen Gesellschaft öffnet, weil sich so ihr Dienst noch reiner, noch deutlicher sichtbar, noch unmißverständlicher vollziehen könnte“ ).

-Es muß unser aller Hoffnung sein, daß sich die beiden mächtigen Kraftpole der heutigen abendländischen Gesellschaft annähern und nicht abstoßen. Die geistige Situation der Arbeiterschaft ist heute völlig anders als vor sieben Jahrzehnten, als sie begann, den 1. Mai zu feiern. In seelischer Hinsicht gibt es ein Vakuum. Das ist auch für die sozialistische Bewegung gefährlich, denn ein purer Wohlstandsglaube hält Zerreißproben nicht stand. Deshalb auch das Bemühen um ethische Sinngebung des Sozialismus, um einen sittlichen Überbau, der jedoch nur als moralischer Imperativ gedacht ist, und es dem Willensentscheid jedes Menschen überlassen bleiben soll, ob dessen Grundlagen religiöser oder philosophischer Natur sind.

Nicht in ihren Lehren, wohl aber in ihrem Bestreben, den Menschen zu sich finden zu lassen und damit die Verhältnisse auf dieser Erde humaner zu gestalten, könnten sich Kirche und Sozialismus finden. Der Kirche entstünde ein weites Feld für ihr Missionswerk, die sozialistische Bewegung verlöre den letzten Schein des Antichrist.

) „Katholizismus und freiheitlicher Sozialismus in Europa“, herausgegeben von Albrecht Langner, Verlag J. P. Bachem, Köln, 1963, Seite 19.

2) Msgr. Dr. Karl Forster (München), „Die katholische Kirche und der freiheitliche Sozialismus“. Fromms Taschenbücher, Band 33, Osnabrück, 1964, Seite 175.

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