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1194 Kandidaten für 200 Sitze

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Die Eidgenossenschaft ist eine direkte Demokratie, und zwar die einzige, in der das direkte Mitsprache- recht der Bürgerschaft bei der Gesetzgebung konsequent durchgebildet und verfassungsmäßig verankert ist. Alle Änderungen an der Verfassung hat das

Parlament dem Souverän vorzulegen, und das Recht, Verfassungsänderungen vorzuschlagen, steht nicht nur dem Parlament, sondern überdies den Kantonen und der Bürgerschaft zu, die mit dem Mittel der Initiative eine Revision der, Verfassung veranlassen können- Außerdem können 30.000 Bürger gegen Gesetzeserlasse des Parlaments die Volksabstimmung anrufen. Man könnte also meinen, bei dieser Struktur der schweizerischen Demokratie spiele das Parlament nur eine bescheidene Rolle, weshalb auch Parlamentswahlen nicht auf ein besonderes Interesse stoßen. Dem ist aber nicht so. Das Parlament spielt in der Eidgenossenschaft eine sehr bedeutsame und entscheidungsvolle Rolle, die über jene etwa des österreichischen weit hinausgeht. Das Volk nimmt daher an der alle vier Jahre am letzten Oktobersonntag fälligen Erneuerungswahl lebhaften Anteil, auch an der diesjährigen vom kommenden Wochenende.

Zwar ist auch in der Schweiz das politische Interesse und das Wahlkampfthermometer in den letzten Jahren gesunken, was zum Teil eine Folge der Konjunktur und des Wohlergehens, zum anderen eine Begleiterscheinung der Abschwächung weltanschaulicher Gegensätze sein mag; doch ist auch bei verminderter Kampfeslust die innere Anteilnahme der Bürgerschaft am Wahlkampf noch immer stark. So aüch im zu Ende gehenden Kampf der Parteien um die Gesamtemeuerung des Nationalrates und die Teilerneuerung des Ständerates.

Sicher kein Erdrutsch

Die Wahlergebnisse sind nur teilweise am Sonntagabend zu erwarten; eine Gesamtbilanz wird sich jedoch nicht vor Montag ziehen lassen. So viel steht indes schon vor dem Urnengang fest: Niemand rechnet mit einem „Erdrutsch". Obwohl diese lapidare Feststellung dem Schweizer fast selbstverständlich vojkommt, ist sie es im Grunde genommen schon deswegen nicht, weil nach den letzten Wahlen von 1959 in der Regierungspolitik eine strukturelle Änderung vorgenommen wurde: An die Stelle der vorherigen kleinen Koalition der drei bürgerlichen Parteien trat gegen die erbitterte Opposition des Freisinns die große Koalition nach der sogenannten

Formel 2:.2:2:1 (zwei freisinnige, zwei konservativ-christlichsoziale, zwei sozialistische und ein Bauern-Gewerbe- und-Bürgerpartei-Vertreter). Die Einbeziehung der Sozialdemokraten als gleichberechtigte Partner in den Bundesrat (so heißt die Landesregierung), durch die das Proportionalitätsprinzip in die Regierungspolitik getragen wurde, ist von liberaler Seite bis heute immer wieder stark kritisiert worden, wobei sich die Kritiker auf die angebliche Volksmeinung der Volksmehrheit stützen — sicher zu Unrecht. Nicht einmal sie selber scheinen zu erwarten, daß das Volk in den bevorstehenden Wahlen diese ihre Kritik honorieren werde. Durch die große Regierungskoalition sind die Gegensätze eher noch mehr abgeschwächt worden, und die Kritik am Regierungsproporz stößt im Volk auf kein Echo. Es ist daher auch unwahrscheinlich, daß sich die behauptete Unzufriedenheit mit der neuen Regierungsformel in den Wahlergebnissen niederschlagen werde.

Vier Sessel mehr

Für die Gesamterneuerung der Volkskammer, des Nationalrates, fehlt es nicht an Anwärtern. 1194 Kandidaten bewerben sich um einen der 200 (bisher 196) Sessel. Ihre Namen stehen zur Hauptsache auf den Listen der schon bisher im Nationalrat vertretenen acht Parteien, doch bewerben sich neben diesen auch Splittergruppen und -grüppchen, ja sogar ausgesprochene Sonderlinge um die Gunst der Eidgenossen. Es gilt aber als ausgemacht, daß die Sitze im neuen Nationalrat ungefähr gleich verteilt sein werden wie im abtretenden und daß auch in der Vereinigten Bundesversammlung, zu der sich die beiden Räte unter anderem zwecks Wahl der Landesregierung vereinigen, das Kräfteverhältnis keine grundlegenden Änderungen erfahren dürfte. In der abgelaufenen Amtsperiode bot die parteipolitische Zusammensetzung der eidgenössischen Räte folgendes Zahlenbild:

Der in den Rechten und Pflichten dem Nationalrat gleichgestellte Ständerat ist die Vertretung der Kantone; jeder Kanton bestimmt daher die Amtsdauer und den Wahlmodus seiner Vertreter in der kleinen Kammer selbst. Einige Kantone lassen ihre Standesvertreter durch das kantonale Parlament wählen, die meisten jedoch wählen sie in freier Volkswahl. Jeder Kanton entsendet zwei Abgeordnete in die Ständekammer, jeder der sechs Halbkantone (Appenzell-Außerrhoden) und Appenzell-Innerrhoden, Basel- Stadt und Basel-Land sowie Obwalden und Nidwalden) delegiert einen Ständ rat.

Gleichzeitig mit den Nationalräten wählen jeweils alle vier Jahre am letzten Oktobersonntag 14 Kantone und Halbkantone ihre Standesherren, so daß neben den 200 Nationalratsmandaten auch 25 Ständeratsmandate an diesem Tag erneuert werden. So auch in diesem Jahr.

Belebter Wahlkampf

Es haben drei besondere Elemente für eine Belebung des staatsbürgerlichen Interesses am Urnengang gesorgt, nämlich: 1. die zahlreichen Rücktritte prominenter Parlamentarier; 2. die Verschiebung im Vertretungsverhältnis unter den Kantonen und 3. der Ansturm der Sozialisten auf den Ständerat. Zum ersten war durch eine ungewohnt große Zahl von Demissionen prominenter National- und Ständeräte für innerparteiliche Auseinandersetzungen um die vakanten Sitze gesorgt. Bekanntlich wirken solche wahlpolitische Auseinandersetzungen hinter den Kulissen auf die Wahlbeteiligung belebend — eine Funktion, die in früheren Jahren die oft recht aggressiven Propagandaschlachten zwischen den Parteien ausübten.

Die negativen Begleiterscheinungen dieser an sich erfreulichen Entwicklung sind aber auch nicht zu übersehen; es ist unter diesen Umständen vor allem schwieriger, dem einfachen Bürger die Notwendigkeit des Urnengangs und der Demonstration für die eigene Überzeugung plausibel zu machen.

Anderseits gewinnt das Denken in wirtschaftlichen Gruppenkategorien auch in der Schweiz an Boden. Mehr Schweizer als früher wählen nicht mehr so sehr für ein weltanschauliches Programm als vielmehr für ihre Gruppeninteressen. Das führt im Schoße der Volks- und Weltanschauungsparteien zu internen Auseinandersetzungen unter jenen wirtschaftlichen und sozialen Gruppierungen, aus denen sich ihr Anhang rekrutiert. Insbesondere dann, wenn wie jetzt ungewohnt viele Rücktritte vorliegen, wird für den Wähler diese Auseinandersetzung „interessant“.

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