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Abschied von der Revolution

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Lateinamerika war 130 Jahre vor Afrika und Asien unabhängig. Der Abstieg in Unterentwicklung begann erst nach 1930.

Erst in den frühen siebziger Jahren goutierte der Subkontinent seinen eigenen „Tercermundis- mo“, mit Salvador Allende in Chile, den Linksperonisten in Argentinien, den nationalistischen Militärs in Peru und Panama, mit Mexiko in seiner eigenen revolutionären Tradition und - natürlich - mit dem Kuba von Fidel Castro.

Über diese Interessenvertretung erhoffte man sich bevorzugte Entwicklungsfinanzierung, „gerechte“ Preise für Rohstoffe, Kontrolle der transnationalen Konzerne und die Schaffung einer neuen Weltwirtschaftsordnung, die man gemeinsam mit Asien und Afrika mitbestimmen wollte. Mit der „Dependenztheorie“, die Lateinamerikas Unterentwicklung mit der Dynamik der kapitali-stischen Weltwirtschaft erklärte, schufen sich die lateinamerikanischen Intellektuellen ein eigenes Referenzsystem für ihre quasi-revolutionären Positionen.

In den achtziger Jahren jedoch, als der Subkontinent in die Schuldenfalle tappte, endete dieser Marsch in einer Sackgasse. Nationalistische, antiimperialistische und revolutionäre Positionen - sie alle auf der Basis einer streng etatistischen Wirtschaftspolitik mit Nationalisierungen und Staatskonzernen nach den Rezepten des cepalinischen Weges (CEPAL ist das spanische Acronym für die UN- Wirtschaftskommission für Lateinamerika mit Sitz in Santiago de Chi le, dem intellektuellen Zentrum für die Entwicklungsdebatte seit 1948) - erwiesen sich als unhaltbar, weil zu teuer. Die große Korrektur begann mit dem Abstreifen des nationalrevolutionären Vokabulars. Der neoliberale Umbau wurde eingeleitet, man begann sich am „Norden“ zu orientieren.

Mexiko, der Revolutionär von 1910 und in den Siebzigern der feurigste „Tercermundista , führte diese Mutation modellhaft vor: die Dritte-Welt-Rhetorik ist passe; die eigene revolutionäre Tradition wird vermüllt; statt der Blockfreienorientierung kam es zur Umarmung der Vereinigten Staaten (was am 1. Jänner 1994 mit dem Inkrafttreten der NAFTA-Verträge abgerundet wurde). Präsident Salinas de Gortari - er übergibt das Amt am 1. Dezember an seinen Nachfolger Ernesto Zedillo hätte es deutlicher nicht sagen können: Mit der drakonischen Liberalisierungspolitik der letzten sechs Jahre soll Mexiko sein Dritte-Welt- Profil abstreifen und zur Ersten Welt aufsteigen. Mexikos Aufnahme in die OECD im Frühjahr 1994 be-siegelte diese erstaunliche Verwandlung, die nachhaltigere Folgen bringt als die Revolution von 1910.

In Argentinien machte dies - ausgerechnet — der Peronist Carlos Menem noch deutlicher, indem er demonstrativ sein Land aus der Gruppe der Blockfreien austreten ließ und außenpolitisch voll auf die Wünsche der USA einschwenkte. Auch in diesem Fall hatte sich der introvertierte Nationalismus früherer Jahrzehnte als zu teuer erwiesen. Und Brasiliens nächster Präsident heißt F. H. Cardoso, der in den sechziger Jahren einer der Väter der revolutionären Dependenztheorie war, heute jedoch auf bürgerlich macht, dem die Unternehmer vertrauen.

ÖSTERREICH IM DILEMMA

Lateinamerika hat der revolutionären Dritte-Welt-Position abgeschworen. Marktöffnung, Liberalisierung, Formaldemokratie und US- Freundschaft bestimmen die Szene. Kuba, längst zur Farce geworden, ist völlig isoliert. Selbst Mittelamerika hat der Revolutionsrhetorik abgeschworen — daß Ernesto Cardenal, der in Europa geliebte christliche Poet und Mystiker, vor einigen Wochen aus der sandinistischen Bewegung austrat, zeigt den Verschleiß solcher lateinamerikanischer Befreiungsbewegungen an.

Österreichs Entwicklungspolitik verkörpert das Dilemma, das sich aus dieser Konstellation ergibt: die Sozialdemokratie agierte gerne — siehe die Sandinisten in Nikaragua - revolutionsunterstützend; die Volkspartei suchte den Gegenpol. So stieg Mittelamerika - aus Gründen österreichischer Innenpolitik - zur Schwerpunktregion für Entwicklungspolitik auf: Nikaragua lag der Sozialdemokratie am Herzen, während Kostarika und Guatemala (in Guatemala befindet sich die einzige österreichische Schule in Lateinamerika) von der ÖVP forciert wurde. Inzwischen trägt diese Spannung nicht mehr, sodaß der österreichische Enthusiasmus entsprechend zurückgeht.

In der Eigendefinition der „Sektion Entwicklungshilfe“ im Bundeskanzleramt sollte vor allem den Ärmsten der Armen geholfen werden. Nun, das müßte starke Unterstützung für Haiti bedeuten. Aber mit diesem Außenseiter will sich auch in Wien niemand abgeben.

So wird man hierzulande wohl froh sein, in der Entwicklungspolitik ab 1995 einfach die Brüsseler Vorgaben übernehmen zu können (siehe Seite 10).

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