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Albaniens Demokratie auf wackeligen Beinen

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Die Zunahme an Gewalt in Albanien im Zusammenhang mit den jüngsten Wahlen hat das „Armenhaus Europas” bei uns wieder in Erinnerung gerufen.

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Die Zunahme an Gewalt in Albanien im Zusammenhang mit den jüngsten Wahlen hat das „Armenhaus Europas” bei uns wieder in Erinnerung gerufen.

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Das nordalbanische Zentrum Shkodra war schon früher eine Stadt der Händler; jetzt sieht es hier aus wie auf einem großen Marktplatz. „Freier Markt” wird in Albanien wörtlich genommen, Kioske und Verkaufsstände beginnen sogar die öffentlichen Parks zu erobern. Nach Jahrzehnten, in denen jede private Geschäftstätigkeit verboten war, ist der eigene Laden für viele Albaner die Erfüllung eines Traums, für andere ein Weg aus der Arbeitslosigkeit. Erste Forderungen, der Staat solle regulierend eingreifen, sonst werde es bald mehr Händler als Kunden geben, bleiben in der Minderheit. Noch hoffen hier viele auf eine blühende wirtschaftliche Zukunft.

Die 123 Kilometer von Shkodra in die Hauptstadt Tirana kann man in drei Stunden schaffen, wenn man nicht versucht, den Schlaglöchern auszuweichen. Am Straßenrand Hirten mit ihren Herden, im Hintergrund brachliegende Felder. Das frühere Agrar-Exportland produziert nicht einmal mehr genug für die Eigenversorgung. Es mangelt noch immer an Saatgut und Maschinen, viele der bei der Aufteilung der staatlichen Großgebiete entstandenen Höfe sind nicht lebensfähig, und die Menschen haben das selbständige Wirtschaften noch nicht gelernt.

Südlich von Lezhe liegt die Industriestadt Lac. Was einmal ein Zentrum der Chemieproduktion war, ist heute eine Ansammlung von Industrieruinen. Für eine Erneuerung der Anlagen fehlt in den noch immer verstaatlichten Betrieben das Geld. Also wird weiterproduziert, solange die Maschinen laufen; laufen sie nicht mehr, wird der Betrieb stillgelegt. Ganze Industriezweige gehen am Kapitalmangel zugrunde.

Für Auslandsinvestoren uninteressant

Die Investitionen ausländischer Firmen blieben bisher hinter den Erwartungen zurück; „wegen des Balkan-Krieges”, so die „offizielle” Begründung. Aber auch der Zustand der gesamten Infrastruktur und die allzu geringe Kaufkraft des Durchschnitts-Albaners, der - nach wiederholten Lohnerhöhungen in den meisten Betrieben - heute umgerechnet rund 400 Schilling im Monat verdient, machen das „Billiglohnland” Albanien für ausländische Investoren wenig attraktiv.

Clirim Qepani, Geschäftsmann aus Tirana, verkörpert die Welt des „big business”. Nach dem Begimewechsel mußte er den diplomatischen Dienst verlassen - das will er bis heute nicht verstehen. Auch in den privatisierten Betrieben habe man alle Spezialisten „ausgetauscht”; überhaupt habe man die Wirtschaftsreform überstürzt und die Menschen unvorbereitet aus der Planwirtschaft in eine Art Manchester-Liberalismus gestoßen. „Kein Wunder, daß nichts mehr funktioniert.” Die meisten der „Spezialisten” seien Geschäftsleute geworden, so wie er. „Sie importieren jetzt das, was im Land nicht mehr produziert wird.” Wieder zurück zum „alten System” möchte aber selbst Clirim nicht. „Im ,alten' Albanien hätte ich nach den vielen Jahren im Ausland nicht mehr leben wollen ...” Betriebswirtin Laura Qorlaze, dreißigjährige Vizedirektorin in einem Großbetrieb mit 4.500 Mitarbeitern, glaubt an das „moderne Albanien”. „Noch vor fünf Jahren hätte ich hier keine Chance gehabt.” Möglichkeiten für junge Menschen -und für Frauen - gebe es erst jetzt. Albanien sei 1991 „wirtschaftlich auf dem Nullpunkt” gewesen; jetzt befinde man sich in einer Phase des Wachstums, sich „Wunder” zu erwarten, sei unrealistisch.

Vor allem in den Städten geben sich die Menschen „westlich-modern” und frei. Erst im vergangenen November lehnte die Bevölkerung in einer Volksabstimmung den Verfassungsentwurf der Begierung ab, der schon im Jahr zuvor im Parlament keine Mehrheit gefunden hatte - ein Stück realer Demokratie.

Allerdings einer Demokratie, deren Wahlrecht die stärkere Partei von vornherein begünstigt: 115 der 140 Parlamentssitze werden an die Mehrheitspartei in den einzelnen Wahlkreisen, die verbleibenden 25 nach dem Stimmenverhältnis vergeben. Einer Demokratie, in der das Fernsehen noch immer „Begierungsfunk” und Plattform für die Mächtigen ist; in der sich überall - auch in der „demokratischen” Begierungspartei -ehemalige Kommunisten finden, die sich vielleicht vom alten Gedankengut, nicht aber zwangsläufig auch von den alten Methoden distanziert haben; deren einzige große Oppositionspartei die Nachfolgepartei der KP ist, in der die „Ewiggestrigen” noch eine starke Gruppe bilden und die deshalb in einer tiefen Vertrauenskrise steckt. Einer Demokratie auf unsicherem Boden, die nicht nur wegen der Vorfälle rund um die letzten Wahlen, sondern auch aufgrund der wirtschaftlichen Situation gefährdet ist. Hier ist Europa zum Handeln aufgerufen. Vielleicht hat die westliche Welt bei Salih Berishas Wahlsieg vor vier Jahren zu laut gejubelt und dann das „Armenhaus Europas” zu rasch wieder vergessen.

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