6779951-1969_39_01.jpg
Digital In Arbeit

Alles offen

Werbung
Werbung
Werbung

Die Wahlversammlungen waren gut besucht. Aber es fanden kaum Emotionen statt, abgesehen von APO- und NPD-Spektakeln. Dem Bundesbürger geht es so gut, daß ihn die Politik nur in begrenztem Umfang interessiert. Die wenigsten sind engagiert. Auch wird der Wähler wohl von dem Gefühl eingewiegt, ob die Union oder die SPD ans Ruder kommt, der allgemeine Wohlstand werde nicht darunter leiden. Die Lösungen der großen Aufgaben in der Bundesrepublik ist in der Tat heutzutage weit weniger eine Frage von Glaubensbekenntnissen und Weltanschauungen als vielmehr der Tatkraft und Phantasie eines Managements, das sich in diesem Fall mit Politik befaßt.

Die programmatischen Erklärungen der Parteien umfassen daher alles, was sich denken läßt. Keine Partei könnte in der Regierung alles das erfüllen, was sie jetzt für die nächsten vier Jahre verspricht. Es hat auch nicht den Anschein, daß die Wähler dies glauben. Darum ist es fragwürdig, wie weit die schlagwortartig geraffte Reklame der Parteien.

Plakate, Riesenanzeigen in der Presse, Auftreten in Rundfunk und Fernsehen — die Stimmabgabe des Wählers entscheidend beeinflussen wird. Offensichtlich orientiert er sich mehr ah den Tatsachen, das heißt, ah der Politik, die von den einzelnen Parteien in den vergangenen Jahren betrieben worden ist. Nach den Meinungsumfragen ist rund ein Fünftel der Wähler noch nicht entschieden, wem die Stimme zufallen soll. Doch 1st diese Angabe problematisch.

Die Parteien bewegten sich daher — fast möchte man sagen: zunehmend auf ungewissem Gelände. Sie blieben aber im allgemeinen Ibei der vorgefaßten Strategie. Sie improvisierten wenig, es sei denn, man wolle es als Improvisation bezeichnen, daß sie sich gegenseitig jeden Tag die Äußerungen ihrer Redner vom Vortag aufrechneten und sich Fragen stellten, auf die der Angesprochene in der Regel keine oder allenfalls eine unklare Antwort gab. Ebenso wurden jeden Tag ganze Programme für einzelne Sachgebiete von den Parteien veröffentlicht. Aber eine große strategische Konzeption des Wahlkampfes wurde nur andeutungsweise spürbar.

Die Union hatte sich allerdings unter Generalsekretär Bruno Heck das Konzept zurechtgelegt, ihre Schlagkraft auf die letzten vier Wochen und dann auf den Kanzlerkandidaten zu konzentrieren. Sie glaubte, davon ausgehen zu können, daß Kie- siniger, gegen Brandt aufgebaut, das Rennen machen werde. Aber SPD und FDP fingen mit dem Wahlkampf viel früher an und zwangen die Union, eher als geplant aus ihrer Reserve herauseutreten. Dieser vorzeitige Beginn Irritierte manchen in den Reihen der Union, der glaubte, es gehe zu viel Terrain verloren. Das darf auch von Kiesinger angenommen werden. Für Heck steht infolgedessen viel auf dem Spiel. Bliebe die Union nicht die stärkste Partei, dann könnte er in die Gefahr eines Scherbengerichtes geraten.

Ihre Zielsetzung für die Wahl haben die zwei großen Parteien freimütig ausgesprochen. Willy Brandt hat erklärt, er wolle für seine Partei die Führung erreichen. Die Union will die stärkste Partei bleiben. Vorübergehend dachte mancher ihrer Politiker sogar daran, sie könnte noch einmal die absolute Mehrheit gewinnen.

Nun haben sich beide Parteien im Wahlkampf gegenseitig ziemlich zerzaust. Dem Wähler wurde wochenlang vorgeredet, die Regierung, die nahezu drei Jahre immer wieder ihren Stolz über die gemeinsamen Erfolge hervorgekehrt hatte, habe in Wirklichkeit aus ziemlichen Nichtskönnern bestanden. Die Union behauptete das von den Vertretern der SPD, die SPD behauptete es von den Männern der Union. Jetzt fragt es sich, wie weit die gegenseitige Demontage der politischen Reputation die Verhandlungen über eine Wiederkehr der großen Koalition belasten wird. Nicht wundernehmen sollte es allerdings, wenn der Spuk des Wahlkampfes nach dem Wahltag rasch verfliegen würde.

Die Neigung bei der Union, die große Koalition noch einmal zu versuchen, ist groß, Obwohl auch zur FDP schon Fäden gesponnen werden. Ähnliche Querverbindungen laufen auch zwischen SPD und FDP. Die Freien Demokraten hatten sich nach der Wahl Gustav Heinemanns zum Bun- daspräsidanten in das Hochgefühl hineingesteigert, damit sei für eine Minikoalition im Herbst die Tür geöffnet. Aber die FDP hat es im Wahlkampf vermieden, klare Stellung zu den großen Parteien zu beziehen. Sie betonte lediglich, daß siÄ nach allen Seiten offen sei.

Eine große Schwierigkeit besteht für sie darin, daß sie in den letzten Jahren einigen Zuzug von mehr oder weniger heimatlosen Linken erhalten hat und glaubte, dem Rechnung tragen zu müssen. Dieser Linkseffekt verstimmte aber den rechten Flügel und die ursprünglichen, sozusagen echten Liberalen. Die Erklärungen Walter Scheels und der übrigen Parteispitze mußten infolgedessen stets so gezirkelt sein, daß man nicht aus der Kurve geriet.

Würde der Wähler alles, was er im Wahlkampf gehört hat, bis zu Ende durchdenken, dann ergäben sich für ihn zwei Fragen: Können Union und SPD in der Deutschland- und Ostpolitik eine gemeinsame Linie finden? Könnten sich SPD und FDP über die Mitbestimmung einigen? Aber er wird sich wohl sagen, daß die Parteien, wenn es ernst wird, um eine Lösung nicht verlegen sein werden. Bemerkenswert ist außerdem die Neigung einflußreicher Sozialdemokraten, die Minikoalition auch dann zu etablieren, wenn die Union zwar die stärkste Partei bleibt, die SPD und die FDP jedoch über mehr Sitze als die Union verfügen.

Das Hauptfragezeichen in diesem Wahlkampf ist die NPD. Die drei klassischen Parteien lehnen jede Verbindung zu ihr ab. Aber Adolf von Thadden höhnt zu Recht, keine von ihnen würde die Vertreter seiner Partei im Bundestag hindern können, mit ihr zu stimmen. Im Grunde fürchten die drei Parteien die NPD im Bundestag nicht. Es wird daran erinnert, wie es auf der äußersten Rechten und äußersten Linken des Hohen Hauses in den ersten Legislaturperioden ausge- sehan und daß der Wähler damals die Radikalen allesamt wieder abgewählt hat. Gefürchtet wird jedoch allgemein das Echo im Ausland, falls der NPD der Einzug in. den Bundestag gelingen sollte. Möglicherweise wäre dies dann sogar ein treibendes Element, noch einmal zur großen Koalition anzuitreten und durch die Einführung des Mehrheitswahlrechtes die Radikalen beider Flügel aus dem Bundesparlament zu verbannet .

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung