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Digital In Arbeit

Alte Parolen für neue Zeiten

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Die Randschichten am Arbeitsmarkt verlieren zunehmend an Schutz, Einkommen und Sicherheit. Warum läßt das den ÖGB unbeeindruckt?

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Die Randschichten am Arbeitsmarkt verlieren zunehmend an Schutz, Einkommen und Sicherheit. Warum läßt das den ÖGB unbeeindruckt?

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Von den äußeren Zeichen der Macht her steht dem ÖGB ganz sicher ein globaler Spitzenplatz zu. Die Zahl der Mitglieder, der Funktionäre, der ihm zurechenbaren Parlamentarier, das Budget und vermutlich auch der legendäre Streikfonds bestätigen dies. Aber auch die Beichhaltigkeit und Verzweigtheit seiner politischen Instrumente, das Netzwerk an Interventionskanälen und Plattformen in Parteien, Medien, Kommissionen, Beiräten, Aufsichtsräten signalisiert beträchtliche Stärke. Solche Macht stellt sich selbstverständlich auch sehr selbstbewußt zur Schau. Allerdings sind den Präsentationen zunehmend autosuggestive Beschwörungen beigemischt. Das verrät Unsicherheit. Und sie ist berechtigt.

Zum ABC der Theorie und Praxis der Gewerkschaften gehört nämlich das Wissen um die Brüchigkeit gewerkschaftlicher Macht. Diese sind labile, ja verletzliche Gebilde. Ihr Erfolg ist hochgradig von günstigen Umfeldbedingungen abhängig. Dieses Umfeld bringt sie zum Aufblühen oder läßt sie vertrocknen. Quelle ihres Einflusses sind so fragile Faktoren wie die Verhältnisse am Ärbeitsmarkt, die wirtschaftlichen Spielräume und die Solidaritätsbereitschaft der Arbeitnehmer. Jeder weiß, daß der Wind der Megatrehds den Gewerkschaften derzeit eiskalt ins Gesicht bläst.

Was sie in Hinkunft bewegen können, wird nicht an dem gerade in Kongreßzeiten recht dick aufgetragenen Make-up erkennbar, sondern an ihrer Fähigkeit, auf alarmierende Signale aus der Realität zu reagieren und darauf Antworten zu finden.

Zweifel an der Fähigkeit des ÖGB, in einer fundamental neuen Situation neue Wege zu gehen, ergeben sich nicht nur aus der bloßen Größe des Verbandes. Organisationen dieser Größenordnung erweisen sich in Zeiten einer extremen Beweglichkeit, einer „Beschleunigungskrise”, oft als unbewegliche Biesen. Aber das ist nicht der eigentliche Kern des Problems. Um zu verstehen, warum sich der ÖGB so schwer tut, die Herausforderungen der neuen Zeiten offensiv anzunehmen, muß man sein Konzept, seine Architektur und sein Erscheinungsbild betrachten. Erst dann begreift man, warum der ÖGB zu einer Stütze des Status quo geworden ist, warum er derzeit für eine Politik der Beschwichtigung und der Verlangsamung überfälliger Strukturreformen steht.

Konzept, Architektur und Erscheinungsbild des ÖGB stammen aus einer Zeit ungewöhnlicher Erfolge. Diese hängen engstens damit zusammen, daß der ÖGB im internationalen Vergleich ein Exotikum darstellt. Hierzulande zeichnet sich Gewerkschaftspolitik durch extreme Zentra-

Mitbestimmung statt Arbeitskampf stellt die „gefährlichen” Betriebe ruhig. lisierung aus. Sie ist hochkooperativ, stark verrechtlicht und weist eine einzigartige Dichte an Verflechtungen mit der staatlichen Ebene auf. Unmittelbare Interessenvertretung wird zugunsten einer Strategie des langen Atems hintangestellt. Optimale wirtschaftliche Rahmenbedingungen und deren nachfolgende Abmelkung sind wichtiger als kurzfristige einkommenspolitische Erfolge. Daher engagierte sich der ÖGB in einer international wohl beispiellosen Weise für Modernisierung, Wettbewerbsstärke, Öffnung der Märkte, Infrastrukturausbau, Standortattraktivität.

Als De-facto-Einheitsgewerkschaft verhindert der ÖGB einen Lizitati-onswettbewerb. Das Fehlen von Richtungsgewerkschaften unterbindet erfolgreich das Einbrechen von Ideologien in das nüchterne Kalkül der Verwaltung von Wachstumsgewinnen. Das „gefährliche” Konfliktfeld Betrieb wird ruhiggestellt, indem eine starke, rechtlich garantierte Belegschaftsvertretung durch Mitbestimmung anstatt durch Arbeitskampf erfolgreich agieren kann. Die Kollektivverträge erfassen nahezu alle Arbeitgeber und auch die Nicht-Gewerkschaftsmitglieder. All das gewährleistet Einheitlichkeit und Disziplin und stützt die zentral ausgehandelten Arrangements ab.

Dieser Konzeption und Architektur ist es zu danken, daß für die vergangenen Jahrzehnte arbeitsrechtliche Standards, sozialstaatliche Garantien, Beschäftigungszahlen und Reallöhne in Kaufkraftparitäten einen respektablen Standard erreicht haben. Das ganze System funktionierte aber nicht nur wegen der „Handschlagsqualität” von Leitfiguren der Sozialpartnerschaft und mit Hilfe der eisernen Klammer einer im Inneren hochgradig formierten, ja hierarchisch durchgeschalteten Organisation. Selbstverständlich lag diesen positiven Ergebnissen ein reales, sozialökonomisches Erfolgsrezept zugrunde.

Es ist das historische Verdienst des ÖGB, die Leistungsfähigkeit dieser magischen Formel im Stil eines treffsicheren Pragmatismus erkannt und optimal genutzt zu haben. Sie lautet verkürzt: Teilung von Wachstumsgewinnen zwischen Arbeit und Kapital, gleichmäßige Aufteilung des „Arbeitnehmeranteils” am Wachstum auf Reallohnsteigerungen, Arbeitszeitverkürzungen (Vollbeschäftigung) und Ausbau des Sozialstaats vor allem im Sinne einer Absicherung der Arbeitnehmer und ihrer Familien vor Einkommensrisiken.

Ergebnis war eine Gesellschaft, die durchaus die Bezeichnung „Arbeitnehmergesellschaft” verdient: Der Arbeitnehmer ist nicht nur Nutznießer gewerkschaftlich ausgehandelter Entgelte und Arbeitsbedingungen, sondern er wird in den Mittelpunkt eines weitverzweigten Arrangements, eines gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsmodells, gestellt. An den Arbeitnehmerstatus sind auch sozialstaatliche Absicherungen, Vollbeschäftigungsstrategien und arbeitnehmerbezogene Interventiorien in die Wirtschaft geknüpft.

Auch heute noch hält der ÖGB an dieser historischen Erfplgsformel unverbrüchlich fest. Ein Blick auf die Sozialdaten und auf die Entwicklung der arbeits- und sozialrechtlichen Situation der letzten Jahre zeigt jedoch, daß dieses Modell nicht mehr so richtig funktioniert. Auch an den internationalen Diskussionen wird deutlich, daß sich die Gewerkschaften heute unversehens in einer extrem turbulenten und gefährlichen Situation wiederfinden. Da ist es schon sehr erstaunlich, mit welcher Beharrlichkeit der im wesentlichen ungebrochene Glaube an Wachstum, Vollbeschäftigung, Einkommenssicherung durch gut abgesicherte Vollzeitarbeitsplätze und an ein Sozialrecht, das sich am Erwerbsstatus orientiert, aufrechterhalten, ja bewußt kultiviert wird.

Man gewinnt den Eindruck, daß fast alles an Umbrüchen und Trendwenden, Paradigmenwechseln und Zuspitzungen den ÖGB unbeeindruckt läßt. Es sind ernste Anzeichen für eine gestörte Wirklichkeitswahrnehmung, wenn nicht erkannt wird, daß Wachstum immer weniger sozialverträglich ist, daß immer mehr Arbeitsplätze kein ausreichendes Einkommen mehr bieten, daß die familiären Lebens- und auch Verteilungszusammenhänge auseinanderbrechen - verbunden mit einer veränderten Stellung der Frau im Erwerbsleben.

Die Gestaltungsmacht der Gewerkschaften wird durch die Globalisierung der Ökonomie eingeschnürt. Die Handlungsspielräume der nationalstaatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik sind geschrumpft. Produktionsstrukturen werden durch die ökologische Krise in Frage gestellt. Die Unternehmen verfügen mit neuen Produktionskonzepten und der breiten Nutzung der Informationstechnologien über eine enorm gesteigerte internationale Beweglichkeit und spielen mit den Belegschaften Katz und Maus. Die festgefügten betrieblichen Strukturen lösen sich auf, Kern- und Bandbelegschaften entstehen, Out-sourcing und Werkverträge nehmen zu, ein von Finanzkrisen geschüttelter Staat kann sozial- und beschäftigungspolitisch immer weniger gegensteuern.

Ist es Diagnoseunfähigkeit, ist es Blauäugigkeit oder ist es Batlosigkeit, wenn angesichts solcher Befunde der

ÖGB weit davon entfernt ist, als machtvolle Lobby für Strukturreformen zu agieren, sondern überall auf die Bremse tritt: beim Umbau des Sozialstaats, bei der Ökologisierung der Wirtschaft, bei der Entwicklung neuer flexiblerer Produktionskonzepte, bei der dringend erforderlichen Vertiefung der EU-Sozialpolitik.

Wie ist es möglich, daß derart lust-und kraftlos auf das Entstehen eines Systems flexibler Unterbeschäftigung, auf die eklatante Zunahme atypischer Beschäftigungsformen, also das Vordringen schlecht geschützter Beschäftigungsverhältnisse wie Teilzeitarbeit, Leiharbeit, befristete Arbeit, neuen Formen der Heimarbeit oder abhängiger Kleinunternehmertätigkeit reagiert wird?

Wie ist es möglich, daß es keine breite Debatte darüber gibt, daß die Randschichten am Arbeitsmarkt zunehmend an Schutz, Einkommen und

Sicherheit verlieren? Warum gibt es keine breite Diskussion darüber, daß das Arbeitsrecht seinen Schutzansprüchen gegenüber einer wachsenden Zahl von Beschäftigten immer weniger gerecht wird und dabei das Sozialrecht gerade den ganz Schwachen besonders wenig Unterstützung gewährt?

Stattdessen wird monoton das Vollbeschäftigungsziel propagiert. Welche Karten will man aber gegen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung (das heißt ungeschützte Arbeit ohne ausreichendes Einkommen) ausspielen? Die Karte der Wachstumsbeschleunigung? Die der Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich? Die des deficit-spending? Die der weiteren Forcierung von Frühpensionierungen? Die des Weghaltens von Frauen und Ausländern vom Ärbeitsmarkt?

Gerade an der Beschäftigungsfrage wird ein bitterer Befund - einer unter vielen - deutlich: Es gibt künftig nicht für alle Arbeitswilligen gut gepolsterte Vollzeitarbeitsverhältnisse. Die Lösung heißt: Teilen von Arbeit und Einkommen, Zulassen flexiblerer Arbeitsformen (die die Wirtschaft ohnehin dringend benötigt), neue Formen einer intelligenten Kombination flexiblerer Arbeit mit Frei-Zeiten, Lern-Zeiten und Zeiten der Nicht-Erwerbsarbeit.

Sozialverträglich würde dieses Modell freilich erst durch einen Umbau des Sozialstaates, der das untere Drittel besser schützt und der verschiedenartige Kombinationen von Erwerbseinkommen und Sozialleistungen ermöglicht. Dazu muß Arbeit außerhalb des Erwerbssektors als gesellschaftlich nützliche und deswegen sozialstaatlich alimentierte Arbeit anerkannt werden. Ein so gestaltetes Sozialsystem verringert nicht nur den Druck am Arbeitsmarkt, sondern es werden auch die zunehmenden Mangellagen an (derzeit) unbezahlter Arbeit in den „Lebensweiten” (Erziehung, Pflege, Eigenarbeit) verringert. Positiver „Nebeneffekt” für die Wirtschaft: So und nur so kann eine stärker deregulierte und flexibilisierte Arbeitslandschaft, wie sie den Anforderungen des Weltmarktes entspricht, aus sozialer Sicht akzeptiert werden (siehe auch Seite 17)-.

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