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Digital In Arbeit

„... am siebenten Tag sollst du ruhen”

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Immer flexibler werdende Arbeitszeiten bedrohen ihn ebenso wie eine weekend-onentierte Gesellschaft: Wie wird der Sonntag weiterbestehen?

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Immer flexibler werdende Arbeitszeiten bedrohen ihn ebenso wie eine weekend-onentierte Gesellschaft: Wie wird der Sonntag weiterbestehen?

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Ich weiß nicht, um welche literarische Gattung es sich bei einem Artikel von Martin A. Senn in der Schweizer Wochenzeitung „Die Weltwoche” (14. November 1996) handelt. Ist es ein eiskaltes „Outing” der geheimsten Gedanken, die heute die Wirtschaft lenken? Oder ist es eine Satire (ursprünglich „Durcheinander”, seit Lucilius „Spottgedicht”)?

„Ade Mittelalter”, heißt es dort in einem eingeschobenen Kasten. „Jahrhundertelang war die gemeinsam begangene Sonntagsruhe ein fest verankertes Ritual. Die individualisierte Konsumgesellschaft hat daraus einen Tag gemacht, an dem es hektisch gegen die Langeweile anzukämpfen gilt. Doch weil sich die Geschichte nicht zurückdrehen läßt, gibt es auf die Verluderung des Sonntags nur eine Antwort: seine Abschaffung. Denn nicht den mittelalterlichen Stundenplan, sondern einen völlig neuen Umgang mit der Zeit braucht der moderne Mensch.”

Die Überschrift formuliert klare Konsequenzen: „Schafft den Sonntag ab! Werktags ist die Freizeit schöner - ein Plädoyer für mehr Flexibilität.” Senn zieht den Schluß: „Nein, meine lieben Pfarrer und Gewerkschaftsbosse, die ,24-Stunden-Gesellschaft an 365 Tagen' wäre nicht die Kapitulation vor dem Profitstreben rücksichtsloser Liberalisierer. Sie wäre, im Gegenteil, die moderne Antwort darauf zum Wohle aller. Nicht länger sollen dann die Menschen arbeiten. Aber sie könnten ihre Arbeit viel selbständiger einteilen als heute. Den vielversprochenen Mehrwert an Freiheit wird die moderne Konsumgesellschaft den Bürgern erst bringen, wenn der Sonntag zum Werktag und der Werktag zum Sonntag geworden ist.”

Satire oder Outing, es ist egal. Die Sache selbst ist ernst. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat am 12. November 1996 erklärt, es sei „nicht nachvollziehbar, warum ein Sonntag für die Gesundheit und Sicherheit von Arbeitnehmern wichtiger sei als jeder andere lag der Woche.” Peter Jann, ein Richter des Europäischen Gerichtshofes, hat erläutert: Eine Regelung über die Sonntagsruhe habe mit der Gesundheit nichts zu tun und also sei dafür die EU nicht zuständig.

Während in den Bereichen Gesundheit, Soziales, Bildungswesen, Technik und Wirtschaft emsig um einheitliche Normen in der EU gerungen wird, soll also der Sonntag der

freien Gesetzgebung der einzelnen Staaten überlassen bleiben.

Das Europa-Parlament in Straßburg hat aber mit großer Mehrheit den Sonntag als allgemeinen Buhetag verteidigt, und zwar aus religiösen, familiären und kulturellen Gründen. Einer der Antragsteller, der britische Labour-Abgeordnete David Hallam, erklärte nach der Abstimmung: „Die Tatsache, daß die Besolution aus allen Ecken und Enden Europas und von fast allen politischen Gruppen unterstützt wurde, zeigt, wie betroffen die Leute über die Erosion des Sonntags als eines Tages der Ruhe und der Gottesverehrung sind.” Der niederländische Innenminister Hans Dijkstal argumentiert: „Das Christentum genießt keine Sonderrechte. Für die jüdischen und muslimischen Gläubigen, die ihren wöchentlichen Ruhetag am Samstag oder Freitag haben, besteht kein Privileg, wie es die Christen kennen. Wir müssen daher gut überlegen, ob es neben dem Sonntagsgesetz auch ein Gesetz zum Schutz des Samstags oder Freitags geben kann.”

Hier sind offenbar Gesetz und Privileg verwechselt. Die Christen haben nicht das „Privileg”, ihren Sonntag zu halten, sondern der Sonntag ist der durch Gesetz für alle Staatsbürger festgelegte arbeitsfreie Tag der Woche. Für Muslime und Juden sind durchaus Privilegien angebracht, damit sie „ihren” Freitag oder den Sabbat feiern können. So soll es übrigens auch in Israel oder in muslimischen Ländern ähnliche Privilegien für die Christen geben.

In den Zehn Geboten Gottes ist der Samstag als Ruhetag bestimmt. Der Sinngehalt des Sabbats ist ab dem 4. Jahrhundert langsam in den Auferstehungstag eingewandert. Das Anliegen der Weisung in Exodus 20,8-11 ist im Verständnis der Kirche nicht, daß ausgerechnet der Samstag ein Ruhetag ist, sondern daß ein regelmäßig wiederkehrender „Siebter Tag” allgemein arbeitsfrei gehalten wird, welcher Tag immer bei dieser Zählung als erster gilt. Darum haben sich ja die Kirchen kaum gewehrt, daß ihr „erster Tag der Woche” (vgl. den sonntäglichen Einschub in die Hochgebete II und III) in den Fahr- und Flugplänen die Nummer sieben erhalten hat. Es geht vor allem um ein regelmäßig wiederkehrendes Fest, das von der gesamten Gesellschaft mitgetragen wird. Es ist ein gefährlicher Sophismus, wenn Bischof Krenn erklärt, die Sonntagsruhe sei „nicht ein göttliches, sondern ein kirchliches Gesetz”.

In seinem Buch „Moratorium des Alltags. Eine kleine Philosophie des Festes” (München 1989) schreibt Odo Marquard: „Je mehr der Sonntag seine Kraft verliert, desto stärker wird das Bedürfnis, das ,Moratorium des Alltags' als Krieg zu absolvieren.” Schon 1937 hat Manes Sperber die These vertreten, daß die Menschen den Krieg nicht nur fürchten, sondern auch auf schreckliche Weise wünschen - als Entlastung vom Alltag. („Zur Analyse der Tyrannis, Wien 1937)

In seiner Friedenspreisrede von 1983 hat er diese These nochmals bekräftigt: „Seit Jahrtausenden suchen Menschen aller Stände der täglichen Wiederkehr des Gleichen zu entfliehen - gleichviel wohin. Gewiß, man kann in intimen Erlebnissen, in Liebe und

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Freundschaft, aber auch in intimen Zwistigkeiten Abwechslung, Flucht und Ausflucht suchen, aber nur das große Abenteuer, ein allgemeines Moratorium des Alltags, kann -scheint es dann - eine völlige Umwälzung der Lebensweise und der alles regelnden täglichen Ordnung herbeiführen: der Krieg.”

Auch der französische Philosoph Pascal Bruckner schreibt in seinem jüngsten Werk „Ich leide, also bin ich”: „Für den modernen Menschen gibt es mindestens zwei Arten, der Last des Alltäglichen zu entkommen: den Krieg und die Zerstreuung. Krieg ist ein furchtbares Gemetzel, kann aber zugleich zu einer Pause werden

und die Menschen aus ihrer Boutine reißen; er klammert gewissermaßen den grauen Ehe- und Familienalltag ein, kann Freiheit von Ordnung und Legalität bedeuten. Er kann die Menschen ebenso in Hochstimmung wie in Schrecken versetzen, verspricht permanente Aufregung und eine bestimmte Form der Schamlosigkeit, da er das Töten erlaubt.”

Marquard vermutet: „Vielleicht hat die wachsende Faszination der Menschen durch den großen Ausnahmezustand bis hin zum Kriegswunsch ... zu tun mit dem Zerfall der Kultur der Feste ... Das Gegenmittel gegen diesen schrecklichen Wunsch nach dem Ausnahmezustand ... besteht in einer neuen Kultur der Feste.” Es geht um das eine große Fest, das eine gemeinsame Distanzierung vom Alltag darstellt. Heute ist der umfassende Bhythmus gestört. Der Sonntag, das Metronom der Gesellschaft, wird immer leiser. Marquard fordert Mut zum Sonntag: „Wer sich durch den Sonntag - durch die Vielfalt und Buntheit der Feste - mit seinem Alltag versöhnt, braucht jenes Moratorium des Alltags' nicht, das der große Ausstieg in den Ausnahmezustand ist: vom alternativen Leben bis zum Krieg.” Wenn diese Überlegungen richtig sind, dann ist die Frage nach einer neuen Festkultur und nach dem Sonntag nicht bloß für die Beligionen und Kirchen von Interesse, sondern sie gewinnt die Dimensionen einer Überlebensfrage der Menschheit. Die Satire Senns könnte das große Durcheinander, die Bückkehr zum Tohuwabohu ankündigen.

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