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Amerikanische Sorgen und Legenden

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Seit Europa nach dem ersten Weltkrieg politisch und wirtschaftlich aus den Fugen ging, galten die USA weithin als Land der Verheißung. Dies um so mehr, als nach der zweiten Weltkatastrophe die Vereinigten Staaten für alle, die vorwiegend westlich denken wollen und dürfen, der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht blieb und Amerika wurde nach dem Krieg für viele der entscheidende Faktor im Wiederaufbau und damit der Garant ihres Bestandes.

Von amerikanischer Seite, von interessierter Touristen bis zum Leiter des ERP, wird mitunter das anscheinende europäische Unvermögen kritisiert, aus eigener Kraft die nötigen, zusätzlichen Konsequenzen zu ziehen — womit die Erzwingung des einheitlichen Wirtschaftsgebietes gemeint ist. Die Europäer aber fragen sich mit Recht, wie das amerikanische Prinzip der freien Wirtschaft mit diesem Fernziel vereinbar sei, das im . wirtschaftlichen Sektor doch zweifellos beträchtlicher nationaler und internationaler Planung und Regulierung bedürfte. Beide Teile sind sich darin einig, daß aus den verschiedensten Gründen das amerikanische Beispiel sich in Europa nicht schlechthin kopieren läßt. Darüber hinaus ist dem Durchschnittsbetrachter, sei er amerikanischer oder europäischer Herkunft, nicht immer klar, daß auch die heutigen USA mit jenen von ehedem nicht mehr vergleichbar sind.

Wer USA sagt, meint oft mit in erster Linie den Dollar und seine imposante Stärke. Der hat sich nun nach dem äußeren Gewand und nach dem Namen nicht verändert. Gemessen am Erinnern des Österreichers, der seine Währung von der Goldkrone zur Assignate, vom Schilling zur Mark und wiederum zum Schilling fallen und steigen sah; gemessen am Auf und Ab der Mark, der Lira und des französischen Franken, alles innerhalb einer einzigen Generation erlebt und erlitten, ist die in den USA vielbeklagte Entwertung des Geldes belanglos. Inflation klingt auf amerikanisch immer noch anders als in jeder europäischen Sprache. Immerhin entspricht der Dollar von heute nach seiner Kaufkraft nur mehr 60 Cent von 1939 und 20 Cent von 1900. Der amerikanische Bundesvoranschlag für 1950 ist auf rund 42 Milliarden berechnet und nimmt einen ungedeckten Abgang von etwa 5 Milliarden an. Die Ausgabenziffern erreichen das rund Vierfache des letzten Vorkriegsjahrs 1940 und das rund Fünfzigfache des Jahres 1916. Die öffentliche

Schuld stieg von rund 2 Milliarden in 1916 auf 43 Milliarden in 1940 und auf 252 Milliarden in 1948.

Selbst in Anbetracht der ungeheuren Steigerung des Nationaleinkommens und des Gesamtvolumens der nationalen Produktion sind diese Ziffern eindrucksvoll; zumal wenn man bedenkt, daß ein Drittel der Gesamtausgaben für Landesverteidigungszwecke gebunden ist. Dies bedeutet eine runde Summe von 13 Milliarden im Jahr oder mehr als die gesamten Staatsausgaben der USA von 1900 bis 1917; wie sehr sich die Ziffern verschieben, wird weiter aus der zeitgemäßen Erinnerung ersichtlich, daß die zweite Haager Friedenskonferenz (1907) sich — allerdings erfolglos — mit der alarmierenden Frage befaßte, was gegen das Ansteigen der Rüstungsausgaben unternommen werden könne, die damals international auf eine Globalsumme von 2 Milliarden Dollar eingeschätzt wurden.

Angesichts dieser Ausweitung in astronomische Ziffern hat der Dollar in seiner heutigen Kaufkraft den Wettlauf in Ehren bestanden. Dennoch werden der besorgten Stimmen auch in den USA immer mehr, die vor einer Fortsetzung ins Unbegrenzte warnen. Ausgangspunkt vieler Debatten war eine vielerörterte Erklärung des Präsidenten der USA, die eine Steigerung des Durchschnittseinkommens von heute 4000 Dollar auf 5000 Dollar in 1955 und 12.000 Dollar für das Jahr 2000 in Aussicht stellte, naturgemäß bei stabiler und friedlicher Entwicklung und bei unveränderter innerer Kaufkraft.

Wie in Europa, hatte auch in den USA die Geldentwertung tiefgreifende soziale Funktionen; Ungerechtigkeiten und Härten blieben auch hier nicht erspart, da-

Noch immer versteuern nur etwa zwei Prozent aller Einkommensteuerpflichtigen ein Bruttojahreseinkommen von über 10.000 Dollar. Die Zahl der Einkommen zwischen 25.000 und 100.000 Dollar in den USA beläuft sich auf 235.000, dazu kommen rund 15.000 Fälle von Spitzeneinkommen über 100.000. Am anderen Ende der Leiter wartet ein Viertel aus der runden Gesamtanzahl von 39,200.000 Familienhaushalten noch immer auf eine Erhöhung ihres Geldeinkommens von unter 2000 Dollar im Jahr, was in vielen Fällen zweifellos die' untere Grenze des Existenzminimums bedeutet. Von diesem Viertel entfallen fast volle zwei Drittel auf die städtische und nur das restliche Drittel auf die ländliche Bevölkerung. Eine weitere soziale' Analyse ergibt, daß unzureichende Altersversorgung (Pensionen), unvollständige, auf Volksschule beschränkte Schulbildung und Verbleiben in den Kategorien ungelernter Arbeit (Hilfsarbeiter) die ausschlaggebenden Komponenten der untersten Einkommensgruppen sind. Entgegen vielfacher Annahme spielt die Negerfrage hier nur eine untergeordnete Rolle, denn nur ein rundes Achtel der niedrigsten Einkommenschicht rekrutiert sich aus sogenannten Minderheitsrassen (Neger und Lateinamerikaner).

Diese Ziffern besagen, isoliert betrachtet, nur wenig. Interessant wird der Vergleich erst, wenn man; das Realeinkommen, somit das Endergebnis der Preis- und Lohnsteigerungen, in Rücksicht zieht. Und hier ergibt sich in grobem Umriß manche Parallele mit Österreich.

Die Gegenüberstellung der Realeinkommen von 1940 und 1950 ergibt, daß der manuelle Arbeiter im Verhältnis gut, der Angestellte und geistige Arbeiter mäßig und der Rentner, worunter auch Pensionisten, Sozialversicherte usw. zu verstehen sind, ausgesprochen schlecht abgeschnitten hat.

Unter den manuellen Arbeitern holten jene Kategorien am meisten auf, die früher unter unzulänglichen Lohnsätzen litten — die unqualifizierten Arbeiter und die Arbeiter der Textilbranche. Letztere erzielten — und dies ohne größere Streiks — die größten Erfolge, was zum großen Teil aus der besseren Konjunktur erklärlich ist. Das Realeinkommen dieser Gruppen hat sich — den Statistiken zufolge — um mehr als 50 Prozent gehoben. Unter schweren Lohnkämpfen und mit erbittert geführten Streiks erreichten die Belegschaften der Kohlengruben eine annähernd gleiche Besserung ihres Reallohns. Die vordem im Verhältnis gut entlohnten Arbeiter der Automobil- und Stahlindustrie erzielten ein rund zehnprozentiges Plus. Nicht so die Eisenbahn-, Elektrizitätsund Gasarbeiter, deren Gewinne unerheblich blieben. Im wesentlichen auf der früheren Realeinkommenstufe verharrte auch die breite Masse der privaten und öffentlichen Angestellten, Beamten, Lehrer und geistigen Arbeiter aller Art. Weite Gruppen aus diesen Kategorien erlitten zunächst beträchtliche Verluste, die erst allmählich aufgeholt wurden.

Trotzdem wurde unlängst die Erklärung eines vertragsangestellten Spitzenfunktionärs in Washington, daß er seinen Dienst quittieren müsse, weil er mit den bewilligten 20.000 Dollar jährlich nicht das Auslangen finde, von den . meisten Zeitungen des Landes zustimmend kommentiert und ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen. Zu Vergleichszwecken sei erwähnt, daß mit Gesetz vom durch aber, daß sie immer unter Kontrolle stand und nicht ins Unbegrenzte abglitt, ermöglichte sie längst fällige soziale Reformen, die nur von der Geldseite her durchgesetzt werden konnten. Ein Blick auf die Einkommensverteilung mag diese Seite des Bildes beleuchten:

Jänner 1949, unter allgemeiner Zustimmung der Öffentlichkeit, das Jahresgehalt des Vizepräsidenten der USA von bisher 20.000 auf 30.000 Dollar erhöht wurde und ebenso das Gehalt des Präsidenten des Abgeordnetenhauses. Diese Bezüge unterliegen der Einkommensteuer. Hoffnungslose Verlierer sind, wie erwähnt, die Pensionisten und Rentner, die bis zu 50 Prozent und darüber ihres Realeinkommens von 1940 eingebüßt haben. Am beträchtlichsten, und zwar nahezu 100 Prozent, war die Realeinkommensteigerung in der Landwirtschaft; allerdings darf dabei nicht übersehen werden, daß die Landwirtschaft vorher im Gefolge der großen Depression von einer direkten Katastrophe bedroht war.

Die unerbittliche Spirale der Preis- und Lphnsteigerungen tritt somit auch in den USA klar genug in Erscheinung. Sie hat an manchen Stellen nötig gewesene soziale Reformen mit sich gebracht, die vernünftigerweise anerkannt werden sollten. Die Schichte derer, die unter die Räder kam, ist kleiner als in Europa, aber sie ist vorhanden. Und alle künftigen Prognosen sind auf die Voraussetzung aufgebaut, daß die Aufwärtsbewegung in beiden Sektoren gestoppt bleibt. Dies besagt unter anderem, daß der derzeitige Lebenshaltungsindex von 170, unter Zugrundelegung von 1939 mit 100, nicht neuerdings beginnt nach oben zu gleiten. Die Arbeitslosenziffer nähert sich zum erstenmal seit anfangs 1941 der 5-Millionen-Grenze. Allerdings ist der Beschäftigtenstand von damals, 49 Millionen, auf rund 58 Millionen und die Gesamtbevölkerung um 15 Prozent gestiegen. Produktion und Umsatz halten sich auf beträchtlicher Höhe. Die Arbeitslosenziffer ist zweifellos großteils saisonbedingt, und von einer Depression ist trotz gelegentlichen Klagens weit und breit nichts zu spüren.

Die Arbeitskonflikte allerdings sind wieder im Steigen. Großenteils steht die Altersversorgung an der Spitze neuer Forderungsprogramme. Dies ist nach dem Gesagten begreiflich. Nach den Kohlenarbeitern und Teilen der Automobilindustrie (Chrysler) drohten Telephon und Eisenbahnen mit dem Streik. Für den Moment scheint jedoch diese Gefahr wieder beseitigt. Der Streik in den Kohlengruben ist beigelegt. Ob er für alle Beteiligten wirklich dafür stand, mag erst die Zukunft erweisen.

Die Streikbewegung an sich war seit dem letzten Höhepunkt in 1946 im Abnehmen begriffen. Immerhin bewegt sich die jährliche Gesamtzahl von Arbeitsausständen um die 3000, eine Höhe, die vordem nur in den Kriegs- und Nachkriegsjahren von 1917 bis 1920, dann wieder 1937 und schließlich 1941 erreicht und übertroffen wurde, um in den Jahren 1944 und 1946 den Rekordstand von fast 5000 im Jahr mit zusammen fast 5,000.000 streikenden Arbeitern zu erreichen. Rund 50 Prozent aller Streiks wurden um bessere Lohn- und Arbeitszeitbedingungen geführt; drei Viertel aller Fälle endeten mit einem Kompromiß, teils mit, teils ohne Intervention der Regierung. Zieht man die Schockjahre 1917, 1937, 1941 und 1946 in Betracht, dann läßt sich unschwer auf das starke Mitschwingen politischer Momente schließen.

Vielleicht wird nirgends in der Welt so viel und mit so viel Aufrichtigkeit und Sorge von der Notwendigkeit einer internationalen Friedensorganisation gesprochen wie in den USA. Der Gedanke des „Weltstaats“ ist ausgesprochen populär unter weiten Kreisen der amerikanischen Jugend, wenngleich zu viel von Kuppel und Fassade und zu wenig von den Fundamenten gesprochen wird. Begreiflich: Fundamente können nur sein, wo solider Grund vorhanden ist.

Und so hört man denn mit einem Ohr begierig nach den Fortschritten der Weltföderalisten und mit dem anderen besorgt nach den häufig wechselnden Kommentaren zum Thema H-Bombe, von der aber ein angesehener Atomphysiker und Nobelpreisträger erklärte, daß es vorderhand noch gar nicht sicher sei, ob diese Superbombe zur Explosion gebracht werden könne.

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