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An der Grenze des Wohlfahrtsstaates

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Das Jahr 1959 hat gute Aussichten, einmal als Schicksalswende des „nordischen Sozialismus" in die Geschichte der skandinavischen Länder einzugehen. Im gleichen Jahr, in dem die schwedischen Sozialdemokraten das 70. Jubiläum seit ihrer Gründung 1889 feiern können, konnte die Regierungspartei unter Führung ihres Ministerpräsidenten Tage Erlander den letzten Schritt zum perfekten Wohlfahrtsstaat tun. Das seit 1938 heißumkämpfte Gesetz für die Einführung der sogenannten Zusatzpension, eine Schicksalsfrage der Sozialdemokratie in diesem Lande, konnte verabschiedet werden. Zugleich aber wurden auch wie nie zuvor die Grenzen der Sozialdemokratie in Schweden auf innen- und außenpolitischer Ebene sichtbar. Als alarmierendes Zeichen muß es gelten, daß die allmächtige Gewerkschaft in Schweden, die prozentual den höchsten Mitgliedsstand der Welt hat und ohne deren Loyalität kaum eine Regierung in Stockholm arbeiten kann, erstmals in ihrer Geschichte zur sozialistischen Regierungspartei in Opposition steht. Zahllose einflußreiche Gesellschaften und Verbände — unter ihnen an prominentester Stelle die staatliche Notenbank — haben schwere Bedenken zur Finanzpolitik angemeldet, in internationalen Finanzkreisen spricht man offen von einer Inflationsgefahr, während der Ressortminister zugeben mußte, in harter Bedrängnis zu sein. Zugleich mehren sich die Stimmen, daß Schwedens bewaffnete Neutralität in Zukunft kaum mehr gewahrt bleiben könnte, wenn nicht umgehend der verhängnisvolle Griff zur eigenen Atombombe getan wird. Weder dazu noch zu der Alternative, dem Beitritt zu einem Verteidigungsbündnis, konnte sich die Sozialdemokratie bisher entscheiden. Die Dynamik der früheren Jahre ist verloren, man schiebt die Probleme in Stockholm vor sich her, statt sie zu lösen, so der Tenor in der Schar der Kritiker. Ganze Bündel von Problemen häufen sich heute vor Tage Erlander und seinen Mannen, während man in der wichtigen zweiten Kammer nur noch mit Hilfe der kleinen kommunistischen Fraktion gegen den Block der drängenden bürgerlichen Parteien regieren kann.

Der „nordische Sozialismus" ist eng verwachsen mit dem beispiellosen Aufstieg der schwedischen Sozialdemokratie. Schon früh haben die Bruderparteien in Finnland, Dänemark und Norwegen Norwegen ist heute das letzte skandinavische Land, in dem die Sozialisten über die absolute Mehrheit verfügen ihre wesentlichen Impulse aus Schweden bezogen. Am 14. April 1889 wurde die „Socialdemokratiska Partiet" aus dem Zusammenschluß einiger kleinerer Gewerkschaftsgruppen gegründet. Man begann mit 3000 Mitgliedern in 14 lokalen Organisationen.

Heute haben von der schwedischen Gesamtbevölkerung von etwa 7.3 Millionen nicht weniger als 775.000 das Parteibuch der Sozialdemokraten in der Tasche. Die demokratische Partei der Sozialisten zählt 7200 lokale Organisationen rundum im Lande. Die überragende Gestalt in der Geschichte der Sozialdemokratie dürfte der legendäre Hjalmar Branting sein, der vom Ursprung her bis zum Jahre 1925 als „Vater des schwedischen Sozialismus" der Partei ihr Gepräge gab. Per Albin Hansson, auch er eine Gestalt, die über alle Parteiengrenzen hinweg als geschichtliche Persönlichkeit Schwedens gilt, führte das Werk Brantings fort. Unter seiner Anleitung wurde die Symbiose zwischen Gewerkschaft und Sozialdemokratie fortgesetzt, und der Weg des „armen Bauernstaates Schweden" zu einem der höchstentwickelten Industriestaaten der Erde nahm dort seinen Fortgang. Die Politik der strikten Neutralität, die Schweden eine ununterbrochene Folge von eineinhalb Jahrhunderten Frieden brachte und die mit dazu beitrug, den Goodwill des skandinavischen Landes zu festigen, war oberstes Gesetz aller demokratischen Parteien während der Kriegsjahre. Von 1939 bis 1945, während Dänemark und Norwegen von den deutschen Truppen besetzt waren, während über die Nordgrenze die Flut der fliehenden Finnländer strömte, schlossen sich die Parteien zu einer Notstandsregierung zusammen. Doch bald nach Kriegsende — Schweden war mit das erste Land, das versuchte, Not und Elend in den besiegten Ländern zu bekämpfen — übernahmen die Sozialdemokraten unter Tage Erlander wieder die alleinige Führung. Zu diesem Zeitpunkt unternahmen die Sozialdemokraten das, was ihre gleichgesinnten „Genossen" auf dem Kontinent bis heute noch nicht fertiggebracht haben: die Partei entwickelte sich nach dem rücksichtslosen Ueberbordwerfen der veralteten marxistischen Terminologien von der klassischen Arbeiterpartei zur populären Volkspartei auf breiter Basis. In Stockholm hatte man zu diesem Zeitpunkt erkannt, daß die klassenkämpferischen Parolen aus der Frühzeit der Sozialisten gegenstandslos geworden waren. Der Umwandlungsprozeß war schmerzvoll, aber notwendig, und die Parteileitung ging ihren Weg konsequent. Umfang und Ausmaß dieses innerparteilichen Kraftaktes kann man heute ermessen, wenn Vertreter der schwedischen Sozialdemokratie mit ihren „Genossen“ vom Kontinent diskutieren. Die Berührungspunkte zwischen Erlander, Sträng und Unden mit Gaitskell, Ollenhauer und Kreisky sind begrenzt. Nur wenige Repräsentanten der Arbeiterparteien in Europa haben die Entwicklung in Schweden bis in die letzte Konsequenz begriffen. Unter denen, die die „schwedische Schule“ während der Jahre der Emigration durchmachten und die vom nordischen Weg wesentliche Impulse empfangen haben, steht wohl an prominentester Stelle der Berliner Oberbürgermeister Willy Brandt. Ein sozialdemokratischer Politiker, der keine Gelegenheit ausläßt, seine schwedischen Lehrjahre zu erwähnen, und der zugleich eine enorme Popularität im nordischen Raum genießt.

Der Erfolg auf dem in den Nachkriegsjahren eingeschlagenen Weg hat der schwedischen Sozialdemokratie rechtgegeben. Während die Bürger ein Höchstmaß an sozialer Sicherheit genossen — Altersversorgung, sozialer Wohnungsbau, Mitbestimmungsrecht gelten heute als vorbildlich für ganz Europa —, die Vollsozialisierung endgültig vom Programm durch eine klug abgewogene Partnerschaft zwischen öffentlicher Hand und privater Initiative ersetzt wurde, erlebte die Partei einen erneuten Aufschwung.

In den Jahren seit 1954 häuften sich jedoch die Rückschläge für die Regierungspartei. Die Bürger des Wohlfahrtsstaates begannen über die überhöhte Steuerlast zu klagen, Konjunkturrückgänge deckten Mängel auf. Während man in Kreisen der Arbeiterschaft Klage führte, daß die Regierung die garantierte Vollbeschäftigung nicht durchführen konnte, geriet der wesentliche Teil der Intellektuellen in Opposition zur Regierung. An den Hochschulen und Universitäten sind die Anhänger der Sozialdemokratie heute, obwohl ihnen der Staat jede nur denkbare Hilfe bei der Ausbildung gewährt, in erschreckender Minderheit. Die bürgerlichen Parteien der Mitte dagegen können konstatieren, daß ein ständig breiter werdender Strom Jugendlicher zu ihren Fahnen strömt. Die tiefgreifende Krise der Sozialdemokratie in Schweden wird heute nicht mehr geleugnet. Die seit über dreißig Jahren nahezu ununterbrochen in Stockholm regierende Partei führt heute einen Abwehrkampf gegen die stürmisch nachdrängende bürgerliche Opposition, die den Sturz Erlanders auf ihre Fahnen geschrieben hat. Im Jahre 1958 gelang es dieser dynamischen Gruppe aus Höger-Partiet Rechtspartei, Center-Partiet Zentrum und Folk- Partiet Volkspartei erstmalig, die allein herrschende Sozialdemokratie in der zweiten Kammer des Riksdagen zu schlagen. Erlander trat zurück, die Neuwahlen des Sommers brachten ein Unentschieden: mit einer Stimme Mehrheit und mit Hilfe der kommunistischen Fraktion regieren seitdem die Sozialdemokraten gegen den bürgerlichen Block.

Das Vorspiel von 1958 setzte sich im laufenden Jahr fort: in einer Kampfabstimmung über das Gesetz für die Zusatzpension, das die Weichen der Sozialpolitik bis zum Jahre 198 5 und darüber hinaus stellte, geriet die Regierungspartei an den Rand des Abgrundes. Die Regierungspartei hatte bereits ihr Rücktrittsgesuch ausgearbeitet, als das wichtige Gesetz mit Hilfe eines einzigen bürgerlichen Abgeordneten die Kammer passierte. Das Defizit im laufenden Haushalt stieg indessen auf 3,5 Milliarden Kronen, Steuererhöhungen scheinen der einzige Aus-weg aus dem Dilemma zu sein. Dem widersetzen sich mit aller Schärfe die Gewerkschaften, die zur Not zu Kampfmaßnahmen greifen wollen, wenn Finanzminister Sträng die geplante Umsatzsteuer von drei Prozent durchsetzen sollte. Die paritätisch besetzten Ausschüsse des Reichstages häufen ihre Bedenken und Kritiken vor der Regierung auf, die Schwierigkeiten wachsen ständig und unablässig. Dies alles in einem Zeitpunkt, in dem die Kritik an der halbherzig geführten Politik der bewaffneten Neutralität immer lauter wird. Nicht nur die Mehrheit des Volkes, sondern auch die gesamte militärische Führung, die Oppositionsparteien und ein bedeutsamer Flügel der Sozialdemokratie fordern heute die atomare Bewaffnung Schwedens. Tage Erlander weicht dieser Entscheidung aus. Sollte er dem Drängen dieser Kreise nachkommen, so würden die Kommunisten als Zünglein an der Waage umgehend den Sturz der Regierung provozieren. Die schwedische Sozialdemokratie, die es seit Jahrzehnten verstanden hat, den Aufstieg Schwedens mit der Entwicklung ihrer Partei klug zu verbinden, befindet sich heute an der Grenze ihrer Politik. Die bevorstehende Herbstsession des Stockholmer Reichstages kann, darüber sind sich viele der politischen Beobachter in Skandinavien einig, den Zusammenbruch der Sozialdemokratie und ihrer Politik bringen. Bei den automatisch nach dem möglichen Rücktritt folgenden außerordentlichen Neuwahlen hat Tage Erlander keine Chance mehr, die Mehrheit im Lande zu finden.

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