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Angst vor dem Umschwung

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Aber die SPD zielte bei der Auswertung des Wahlergebnisses schon in der Wahlnacht auf das Herz aller Dinge. Bei der CDU fühlen sich manche Kreise seit längerem ungemütlich. Sie stehen unter dem Eindruck, die SPD befinde sich in zwar langsamem, jedoch unaufhaltsamem Vormarsch, so daß der Tag abzusehen sei, an dem der große Umschwung kommen werde. Dieser Gedanke ist naturgemäß bedrückend für eine Partei, die weit länger, als Hitlers Tausendjähriges Reich gedauert hat, in Bonn an der Regierung ist. Die Schwarzseher kritisieren, die Regierung halte nicht, was man sich von ihr versprochen habe, insbesondere sei Erhard nicht der Mann, der die Zeitläufe zu meistern vermöge. Zu diesen Vorwürfen hat vieles beigetragen. Die schwierige weltpolitische Lage wirkt hinein, auch das immer mehr um sich greifende Gefühl der Ohnmacht, in dem sich die deutsche Politik befindet. Deshalb hat die SPD einen Erfolg gehabt, als sie auf den Redneraustausch mit der SED einging, weckte dies doch weithin das Gefühl, hier geschehe etwas, hier werde endlich Aktivität an den

Tag gelegt, die das amtliche Bonn vermissen lasse.

Das Hemd und der Rock

Fast noch mehr bedrückt, weil den Wählern das Hemd näher ist als der Rock, die wirtschaftliche Lage. Die Rückkehr zu normalen wirtschaftlichen Verhältnissen, der langsame Abbau des hektischen Aufstiegs des Wirtschaftswunders, kommt dem Bundesbürger, der nicht viel über Einzelheiten und Ursachen nachdenkt, wie ein schwerer Rückschlag vor, als Ausfluß des Unvermögens, der Einfallslosigkeit und Schlappheit seiner Regierung. Schon kann man hören, der Wirtschaftsprofessor Erhard könne das Wirtschaftswunder eben nicht halten. So unsachlich und ungerecht solche Bemerkungen sind, sie nehmen aber offensichtlich zu. Erhard läuft Gefahr, der Prügelknabe für eine Entwicklung zu werden, die auch ein Supermann im Kanzleramt schwerlich voll und ganz im Griff gehabt hätte, weil zu viele Faktoren einwirken, die nicht seiner Kontrolle unterliegen. Am bedeutsamsten sind aber Äußerun gen wie diese, Erhard habe in Nord- rhein-Westfalen bewiesen, daß er keine Wahllokomotive mehr sei. Dieses Argument hatte sich der Kanzler freilich selbst zugezogen, indem er einmal erklärt hatte, die Bundestagswahlen vom vorigen Herbst seien erst mit den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen richtig gewonnen. Aber hinter der abschätzigen Beurteilung der „Wahllokomotive“ verbirgt sich mehr. Hier sind die Überlegungen angedeutet, die schon bei Einsetzung des gegenwärtigen Kabinettes hier und da anzutreffen waren: Zwei Jahre solle man Erhard Zeit geben; reüssiere er nicht, dann müsse man ihn rechtzeitig ablösen, um die Wahlen von 1969 wieder zu gewinnen. Fragt sich — auch heute — nur, durch wen die Ablösung erfolgen soll.

Furcht vor dem Morgen

In Nordrhein-Westfalen hat natürlich noch mehr mitgespielt. Die Schließung von Zechen, die große Absatzkrise der Kohle, der gesamte Strukturwandel des Industriegebietes haben offensichtlich die Grundstimmung erheblich beeinträchtigt, obwohl die arbeitslos werdenden Bergarbeiter sofort wieder Arbeit finden. Aber Umzug und Umschulung, wie sie stellenweise notwendig geworden sind und werden, sind unbequem. Es wirkt auf die ganze Familie zurück. Dazu hat die Menschen die Ungewißheit vor der Zukunft befallen. Ihre gewohnten Lebensverhältnisse erscheinen ihnen als gefährdet. In diese Stimmung hat die SPD geschickt hdneingestoßen.

Sie hat die Furcht vor dem Morgen gestärkt, so daß sich ihr wahrscheinlich auch mancher katholische Arbeiter in die Arme geworfen hat, hoffend, dadurch die Sicherheit seiner Existenz zu erhalten, vor deren Gefährdung ihm bangt.

Dennoch kann die SPD ihres Sieges nicht recht froh werden. Die Regierungsmannschaft, die Kühn bereithält, ist nicht sehr imponierend. Sie ist im Wahlkampf in dieser Eigenschaft auch nur wenig in Erscheinung getreten. Vor allem aber muß Kühn sehen, wie er in Düsseldorf im Landtag eine Mehrheit erhält. Allein kann die SPD nicht regieren. Sie wird auf jeden Fall, das kann als sicher gelten, einem derartigen Dilemma aus dem Weg zu gehen versuchen. Denn sie sagt sich mit Recht, daß dies die sicherste Lösung wäre, um sie mit aller ihrer Arbeit von der Opposition abhängig zu machen und sie binnen weniger Jahre zu verschleißen.

Koalitionsgespräche

Was die FDP anlangt, so hat ihr Vorsitzender, Minister Weyer, noch in der Wahlnacht eine Koalition mit der SPD abgelehnt, wobei bestimmt der Gedanke mitgespielt hat, die kleine Koalition im Bund nicht in Gefahr zu bringen. Bei der CDU kannte man unmittelbar nach den Wahlen ungefähr jede denkbare Lösung empfehlen hören. Dabei wurde zugunsten einer großen Koalition angeführt, die SPD in Düsseldorf dürfe nicht verärgert werden, vielmehr müsse die CDU dort Einfluß behalten, denn sechs Nordrhein- Westfalen-Stimmen mehr im Bundesrat machten dort die CDU-Mehr- heit zunichte; außerdem müsse verhütet werden, daß die SPD die Unterstützung der Verfassungsänderungen für die wirtschaftlichen Stabilisierungsgesetze und die Notstandsgesetze in Bundestag und Bundesrat versage. Schließlich verweisen die Anhänger der großen Koalition darauf, daß die FDP auch in den Ländern — so neuerdings in Baden-Württemberg wegen Schul- fragen — der CDU das Leben so sauer mache, daß das Zusammengehen mit der SPD vorzuziehen sei; die FDP müsse einmal fühlen, wenn sie nicht hören wolle. Doch ist nicht zu übersehen, daß die Befürworter der kleinen Koalition in Bund und Ländern bei der CDU noch immer sehr stark sind.

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