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Anschlag auf den Pluralismus

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Die Bundesverfassung legt für die Wahlen zu allen allgemeinen Vertretungskörpern einheitliche Grundsätze fest. Dazu gehört auch der Grundsatz des Verhältniswahlrechtes. Er bedeutet, daß wahlwerbenden Parteien nach Maßgabe ihrer Stärke eine Vertretung gesichert ist. Der Grundsatz läßt zwar verschiedene Ausgestaltungen zu, aber die Parteien müssen im Vertretungskörper in der Stärke repräsentiert sein, die dem Verhältnis der für sie abgegebenen Stimmen entspricht: Dem Proporzwahlrecht soll ein Proporzparlamentarismus auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene entsprechen.

Das Verhältniswahlrecht gehört auch zum Grundkonsens der Politik. Es fällt auf, daß bei den vielen Änderungen der Bundesverfassung die Elemente des Begierungssystems nicht verändert worden sind: Das Wahlsystem und das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Vollziehung sind rechtlich gleich geblieben.

Das ist auch insofern bemerkenswert, als die Elemente des Systems für ein effizientes Begieren zuwenig aufeinander abgestimmt sind. Diese Strukturdefekte (Proporzwahlsystem - Gewaltenkonfusion nach britischem Muster - volksgewähltes Staatsoberhaupt nach dem Vorbild der Weimarer Beichsverfassung) haben Politologen und Juristen schon vor 30 Jahren kritisiert. Anton Pelin-ka und ich haben in „Demokratie und Verfassung in Osterreich” als Therapie für die diagnostizierten Strukturdefekte ein anderes Wahlrecht vorgeschlagen. Zusammen mit Heinrich Neisser haben wir Plädoyers für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht gesammelt.

Dies war sinnvoll, weil von Mitte der fünfziger bis in die achtziger Jahre 90 Prozent der Wählerstimmen auf SPÖ und ÖVP entfielen. Aber es erfolgte 1970 kein Schritt zu einem mehrheits-, sondern zu einem min-derheitsfprdernden Wahlrecht. Nach den Worten des Verfassungsrechtlers und Politologen Gustav E. Kafka „Ein Schritt in die falsche Bichtung”. Bruno Kreisky wollte damals die OVP durch Stärkung der FPÖ schwächen. Damit war aber auch die Entwicklung zum jetzigen Fünfparteiensystem eingeleitet.

Diese Pluralisierung des Parteiensystems war eine Normalisierung. Denn in einer freien Gesellschaft hat ein Verhältniswahlsystem regelmäßig ein Mehrparteiensystem zur Folge.

Heute bestehen auch mehrere Parteien. Der Ubergang zu einem mehr heitsfördernden Wahlrecht würde das Liberale Forum und die Grünen aus den Volksvertretungen eliminieren. Der Pluralismus würde zum Trialismus. Wer heute für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht oder gar für die Einführung der Mehrheitswahl eintritt, behindert oder verhindert den politischen Pluralismus. Ob das im Hinblick auf den derzeitigen Proporzparlamentarismus „demokratiepolitisch” zu rechtfertigen ist, ist mehr als fraglich. Der große politische Grundkonsens wäre gestört.

Es ist die innere Problematik unseres Begierungssystems, daß es auf dem Proporz bei Wahlen beruht und zum politischen Pluralismus führt, die Spitzen der Vollziehung aber zur Zusammenarbeit zwingt. Die Wettbewerbssituation, der die politischen Parteien ausgesetzt sind, wird aber durch den Konsenszwang in Koalitionen nicht aufgehoben. Die Führer der Begierungsparteien haben eine Doppelrolle: Als Begierung müssen sie miteinander, als Parteiorgane oft gegeneinander arbeiten. Wenn sie sich profilieren wollen, funktioniert die Zusammenarbeit nicht. Wenn sie aber auf die Profilierung verzichten, besteht die Gefahr, daß sie die nächste Wahl verlieren. In Konfliktfällen wird die Parteirolle demonstrativ zur Schau getragen, im Alltagsleben muß kooperiert werden. Begieren besteht in der Kombination von Konkurrenz-und Kooperationsrollen.

Die Wähler können die Proportionen im Parlaments- und Begierungsproporz ändern, sie können aber wenig bestimmen, welches Konzept mit Konsequenz durch eine Begierung verwirklicht werden soll. Das hängt weitgehend von der Koalitionsstimmung in den Parteien und vom Bundespräsidenten ab. Problemlösungskapazität und Beformpolitik können sich daher nur dann entfalten, . wenn die Zusammenarbeit funktio ' niert. Dabei kann der Druck von außen und von innen, aber auch der Erwartungsdruck der Wählerschaft dazu führen, daß latente Koalitionskrisen nicht zu Begierungskrisen ausarten, sondern immer wieder zu neuen Kompromissen führen. Die institutionelle Gefangenschaft ist ein Preis, der für die Proporz- und Kon-sensdemokratie zu bezahlen ist. Sie kann aber durch individuelle Anstrengungen der politischen Akteure in der Zusammenarbeit überwunden werden.

Diese Zusam menarbeit großen Fragen müßte im übrigen auch bei einem Mehrheitswahlrecht erfolgen, denn die Begierungsautonomie auch einer Einparteienregierung ist heute längst nicht mehr gegeben. Zur Zusammenarbeit nach innen ist mehr und mehr die Zusammenarbeit nach außen gekommen, und der Abbau der Staatssouveränität wird voraussichtlich noch zunehmen.

Das alles soll nicht heißen, daß nicht über ein anderes Wahlrecht nicht diskutiert werden soll. Derzeit fehlen aber die real- und demokratiepolitischen Voraussetzungen dafür. Kommt es zu einer weiteren Aufsplitterung der Parteienlandschaft, so könnte die Frage eines mehrheitsför-dernden Wahlrechts wieder aktuell werden. Daneben müßten aber auch die Struktur der obersten Vollziehung auf Bundes- und Landesebene, insbesondere die Stellung des Bundespräsidenten, des Bundeskanzler und der Begierungen sowie ihr Verhältnis zu den Parlamenten diskutiert werden. Denn das Begierungssystem setzt sich aus mehreren Elementen zusammen, die aufeinander abgestimmt werden müssen.

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