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Aufbruch im Islam

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Die islamische Welt, in ihrer gewaltigen, den halben Erdball umfassenden Ausdehnung, ist in Bewegung. Von den Säulen des Herkules bis zum ostindischen Archipel durchzieht den Mohammedanismuß ein politischer Aufbruch von elementarer Kraft und Zielsicherheit, dessen Stöße das darübergelagerte europäische Herrschaftsgebäude angreifen, erschüttern und teilweise bereits zerstörten. Indonesien, durch ein leicht verletzliches Band mit der Niederländischen Union verknüpft, ein vorwiegend islamischer Staat, erreicht Großbritannien an Volkszahl, übertrifft es mutmaßlich an natürlichem Reichtum. Weiter, westwärts, schwingt sich der Bogen nach Indien. Dort ist

Pakistan, eine mohammedanische Großmacht von 70 Millionen Einwohnern, entstanden, der Volkszahl nach der fünftgrößte Staat der Erde. Seine politische Schwerkraft ist im Wachsen, sein Führungsanspruch im arabischen Raum ist deutlich und wurde mehrfach angemeldet. Pakistan wird dem westlichen Konzept nicht offen widerstreiten, solange es dem Commonwealth angehört. Neueste Sturmzeichen könnten auf eine Wandlung deuten. Persien versucht — bisher mit Erfolg — den Südteil des Landes dem politischen und wirtschaftlichen Einfluß Großbritanniens zu entziehen, ohne deshalb den Nordteil dem anderen Partner des ehemaligen britisch-russischen Teilungsverträges auszuliefern. Schließlich der Raum, den die arabische Sturzflut von 1200 Jahren dem Abendland entrissen hat: Vorderasien und Nordafrika — Ost- und Südküste des Mittelmeeres, dessen Wellen im Norden gegen die Hafenmolen vor Marseille, Genua und Triest schlagen. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert hatte der Westen seine Herrschaft über diese Gebiete wieder aufgerichtet. Sie ist im engeren arabischen Raum bereits eingestürzt. Frankreich hat seine levantinische Position-nach dem zweiten Weltkrieg verloren. Das Königreich Ibn Sa'uds — der Kern der arabischen Halbinsel —, Syrien und der Libanon sind souverän geworden. Der Irak schickt sich an, dem Beispiel Per-siens zu folgen, und es ist kein Mittel zu sehen, ihn daran zu hindern. Die Schüsse vor der Omar-Moschee in Jerusalem haben dem jordanischen Wüstenstaat einen neuen, antibritisch gesinnten Herrscher gegeben.

Einsam, in ständiger militärischer Bereitschaft, steht das neue Israel inmitten unversöhnlicher Feinde. Der Funke springt weiter, nach Afrika, und droht in Ägypten zur Flamme zu werden. Am Suezkanal, dem Weg nach Indien, der östlichen Pforte des Mittelmeers, stehen einander britische und ägyptische Soldaten gegenüber. Seine noch Immer steigende weltwirtschaftliche Bedeutung spiegelt sich im zwei Ziffern: im Jahre 1938 haben 6171, im Jahre 1949 10.420 Schiffe den Suezkanal passiert. Der anglo-ägyptische Bündnisvertrag, der Großbritannien das Recht verleiht, in der Suezkanalzone Garnisonen zu unterhalten, seinem Texte nach bis 1956 gültig, ist von Ägypten einseitig gekündigt worden. Er trägt die Unterschrift desselben ägyptischen Staatsmannes, Nahas Pascha, der ihn nun aufgekündigt hat. Ägypten, seiner Position als Schlüssel zum östlichen Zentrafafrika bewußt, geht noch weiter. Der Ruf «Ein Nil — ein Volk — ein König!“ hallt durch die Straßen von Alexandrien und Kairo. Faruk I. hat sich zum „König von Ägypten und vom Sudan“ erklärt und gleichzeitig das Abkommen vom Jahre 1899 gekündigt, das bis zur Ubergabe der Regierungsgewalt an die Bevölkerung des Sudan, dieses Land einem anglo-ägyptischen Kondominium unterstellt. England, entschlossen, Suezkanal und Sudan zu behaupten, ist zu militärischem Widerstand befeit. Ägypten stellt wohl eine spätere militärische Zusammenarbeit mit dem Westen in Aussicht, fordert aber den vorherigen Abzug der britischen Truppen aus dem Suezkanalgebiet. Die Lage, beiderseits durch Prestigerücksichten verschärft, ist überaus heikel. Der anglo-ägyptische Sudan reicht bis vor den innerafrikanischen Victoria-See und empfängt 6eine Wasser aus Abessinien, das eine starke mohammedanische Minderheit besitzt. Er grenzt an Uganda-Kenia, das nach der Räumung des vorderasiatischen Glacis ein Zentrum der britischen Reichsverteidigung ist.

Die Arabische Liga, die ihren Sitz in Kairo hat, unterstützt Ägypten. Kommunistische Einflüsse sind deutlich festgestellt worden. Ein Rückzug der Westmächte aus dem Nahen Osten gibt ja dem Kreml für spätere Aktionen freie Bahn.

Afrika war bis nun das letzte koloniale Reservat Europas, durch ein Binnenmeer mit diesem eher verbunden, als von ihm getrennt, sein ältestes südliches Expansionsgebiet, fast sein Annex. Eurafrika: der Plan zur Mobilisierung der dem dahinschwindenden europäischen Einfluß noch' verbliebenen rohstofflichen Ergänzung beginnt eben erst, Form und praktische Gestalt anzunehmen. War es ein Plan oder ein Traum? Nicht genug! Auf dem Gegenufer Süditaliens entsteht soeben das neue, souveräne Libyen. Tunis, gestützt auf seine bisher ins Schattendasein gedrängte Dynastie und Halbstaatlichkeit, erwirbt allmählich größere Selbstverwaltungsrechte. Algier, der Schlüssel zur Sahara, ist von einer starken Unabhängigkeitsbewegung durchsetzt. In Marokko, einem Eckpfeiler der Atlantikverteidigung, erwiderte der Sultan dem neuernannten französischen Generalresidenten, General Guillaume, auf dessen entschlossene Begrüßungsansprache: „Meine erste Aufgabe als Staatschef wird es sein, mein Volk in seinem Streben nach Freiheit und Souveränität zu unterstützen und in diesem Sinne noch größere Anstrengungen denn je zu machen.“ Der Kreis schließt sich- Von den Säulen des Herkules bis zum ostindischen Archipel...

Der Mohammedanismus schickt sich nicht an, eine das Weltgeschehen mitformende Kraft zu werden: er ist dies bereits. Diese Tatsache in voller Klarheit und in der Erkenntnis ihrer letzten politischen, religiösen, wirtschaftlichen und militärischen Auswirkungen zu erfassen, ist für Europa eine Verpflichtung. Denn das Ereignis, das sich mit dem Aufbruch im islamischen Raum vollzieht, scheint von einer noch bedeutungsvolleren Größenordnung als selbst das italienische Risorgimento oder die Bismarcksche Reichsgründung. Nur eine fehlerhafte Perspektive oder die Auswirkung der Distanz an sich vermögen •es unseren Augen verkleinert darzustellen. Das Mittelmeer ist aus einem europäischen Binnensee wieder die offene Südflanke des Kontinents geworden. An seiner Gegenküste kristallisiert sich eine Welt von

Klein- und Mittelstaaten, von einander wohl durch manche nachbarliche Zwistig-keiten geschieden,- in ihrer Gesamtheit aber durch ihre nationalarabische und islamische Gemeinsamkeit verbunden, ihres neuangefachten nationalen und religiösen Lebens überbewußt, einig in ihrer antiwestlichen Einstellung- Es wird das Ziel einer vorplanenden europäischen Politik sein, dem Notwendigen zeitgerecht Folge zu leisten, das gemeinsame Interesse beider Lager zu fördern, der wirtschaftlichen Entwicklung Hilfe zu leihen, aus der Überlegenheit einer alten diplomatischen Schulung heraus Werdendes eher mitzuformen als zu bestreiten. Die europäische Hohe Politik hat in der Vergangenheit Probleme gemeistert, die der heutigen Entwicklung im Mittelmeerraum an Schwere nicht nachstanden. Europa darf bei dieser Aufgabe der Hilfe der dem Atlantikpakt angeschlossenen Türkei sicher sein, die ihrerseits wieder freundschaftliche Beziehungen zur arabischen Welt pflegt. „Ich habe das Gefühl, als sei ich in meinem eigenen Vaterland“, äußerte sich der ägyptische Generalsekretär der Arabischen Liga, Azzam-Pascha, anläßlich eines offiziellen Besuches in der Türkei. Wieder führt über den Bosporus die Brücke zwischen Okzident und Orient.

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