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Aufwind für Kommunisten

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Die chilenischen Präsidentschaftswahlen finden ein weltweites Echo: Ist die „friedliche Revolution“ Dr. Freis, sein „christdemokratisches“ Experiment, gescheitert? Haben die Kommunisten in Chile, als dem einzigen Land in Lateinamerika, die Chance, legal an die Macht zu kommen?

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Die chilenischen Präsidentschaftswahlen finden ein weltweites Echo: Ist die „friedliche Revolution“ Dr. Freis, sein „christdemokratisches“ Experiment, gescheitert? Haben die Kommunisten in Chile, als dem einzigen Land in Lateinamerika, die Chance, legal an die Macht zu kommen?

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Etwa 3,5 (unter 10) Millionen Chilenen werden am 4. September Antwort auf diese Frage geben. (Die kürzliche Verfassungsänderung, mit der das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre gesenkt und auch den Analphabeten das Wahlrecht gewähr^ wurde, tritt erst am 4. November, bei der Regierungsübernahme des neuzuwählenden Präsidenten, in Kraft). Dr. Eduardo Frei hat das große internationale Interesse für die Wahlen in erster Linie darauf zurückgeführt, daß Chile eines der wenigen Länder Lateinamerikas ist, in dem es noch eine freie Volksbefragung gibt und die Regierung ihrer verfassungsmäßigen Pflicht genüge, allen Kandidaten gleiche Chancen zu garantieren. Freilich macht man es ihr nicht leicht. Die Welle der Gewalt, die Lateinamerika durchläuft, hat auch Chile erfaßt: Die Terroristen, meist Mitglieder des „MIR“ („Movimiento de Izquierda Revolucionaria“ — „Linksrevolutionäre Bewegung“) werfen täglich Bomben und berauben Banken; Gymnasiasten und Studenten errichten Barrikaden und bewerfen die Polizei mit Steinen. Es gab drei Tote. So bilden Terror und Sozialkonflikte die Begleitmusik zu dem schärfsten Wahlkampf, an den sich die Chilenen erinnern können. In ihm spielen die MeinungsforschungsinstJitute eine große Rolle. Zuerst gaben sie ausnahmslos dem Kandidaten des ,,Par-tido Nacional“ (der Vereinigung von Konservativen und Liberalen) die größten Chancen: Der jetzt 74jährige Jorge Alessandri ist der Sohn eines der berühmtesten chilenischen Staatsoberhäupter und war selbst 1958 bis 1964 Präsident. Er bewundert de Gaulle. So paradox es erscheint, beruhen seine Aussichten gerade darauf, daß er erklärt, ein Gegner des Parteiwesens, der Demagogie und der „politiqueria“ — der kleinen Geschäftemacherei — zu sein. Die Masse hat die endlosen und unfruchtbaren Diskussionen über die Doktrin der Parteien, ihre Spaltungen und die Form der politischen Willensbildung, das „gib und nimm“ im parlamentarischen Alltag, satt. Diese Situation erklärt, warum man bis vor wenigen Wochen auch in Kreisen seiner Gegner Alessandri« Sieg prophezeite. Inzwischen ist man schwankend geworden und gibt abwechselnd dem christdemokratischen Kandidaten Radomiro Tomic oder dem der „FRAP“ (Volksfront), Doktor Salvador Allende, gute Chancen. Tomic ist 54 Jahre alt, hat neun Kinder, und zwar zuletzt chüenischer Botschafter in Washington. Tomic hat vor allem damit zu kämpfen, daß das Prestige der christdemokratischen Partei in den letzten sechs Jahren stark gesunken ist. Zwar erklärt sich der einzigartige Sieg Dr. Freis vor sechs Jahren (55,4 Prozent der Stimmen) nur daraus, daß ihm auch die Rechte ihre Stimmen gab, weil sie ihn als das „geringere Übel“ gegenüber einem Sieg der Volksfront betrachtete, aber auch, wenn man nur die Parlamentswahlen vergleicht, ergibt sich zwischen 1965 und 1969 ein Abstieg von 42,3 Prozent auf 31,1 Prozent. Die Christdemokraten sind sich darüber einig, daß die Agrarreform, bei der trotz des parlamentarischen Hindernislaufes schließlich 1140 Großgrundbesitzer enteignet wurden, und die Erhöhung der Zahl der Fabriksarbeiter von 225.000 auf 580.000, sowie die der Kooperation von 986 auf 2315 außerordentliche Erfolge darstellen.

Der jetzt 61jährige Dr. Salvador Allende wurde 1932 Arzt, nahm 1933 an der Gründung der sozialistischen Partei Chiles teil, war Gesundheitsminister von 1939 bis 1941 und hat schon dreimal — 1952, 1958, und 1964 — vergeblich zur Präsidentschaft kandidiert. Beim letzten Mal freilich hat er immerhin fast eine Million Stimmen unter rund drei Millionen erreicht. Durch eine „Absprache“ mit der linksbürgerlichen „Radikalen Partei“ wurde er 1966 zum Präsidenten des chilenischen Senats gewählt. Das hinderte ihn, einen intimen Freund Fidel Castros, nicht, in Santiago die Gründung einer nationalen Zweigstelle der „O. L. A. S.“ (lateinamerikanische Sölidaritätsorganisation mit der kubanischen Revolution) in die Wege zu leiten. Allende lebt ausgezeichneten Verhältnissen, ine drei Töchter besuchten die teuersten Privatschulen des Landes. Aber Allende steht links von der Kommunistischen Partei, die heute mit über 3600 Zellen und mindestens 50.000 zahlenden Mitgliedern die relativ größte kommunistische Partei der westlichen Welt (vor Italien und Frankreich) ist. Während die Kommunistische Partei in den meisten lateinamerikanischen Staaten verboten ist, konnte sie ihren letzten Parteikongreß Ende 1969 in dem Hauptsaal des chilenischen Nationalkongresses, in Anwesenheit zahlreicher ausländischer Gäste eröffnen, ohne daß die Rechte auch nur protestiert hätte.

Aber die Wähler werden am 4. September aller Voraussicht nach nicht entscheiden, wer der Präsident Chiles wird. Nach der Verfassung gilt ein Kandidat nur dann als gewählt, wenn er über die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhält. Das ist bei den kommenden Wahlen nicht zu erwarten. Bei nur relativer Mehrheit hat der Kongreß das Staatsoberhaupt unter den beiden meistgewählten Kandidaten zu bestimmen. Nun entspricht es der Tradition, daß das Parlament in diesen Fällen den wählt, der die meisten Stimmen erhalten hat; aber es ist dazu keineswegs gezwungen. Die Anhänger Alessandris behaupten, daß zwischen den Christdemokraten und der Volksfront eine geheime Abrede bestehe, im Falle eines Wahlsieges von Alessandri ihre Parlamentsstimmen gegen ihn für denjenigen Kandidaten — Tomic oder Allende — zu vereinigen, der an zweiter Stelle nach Alessandri käme. Umgekehrt behaupten die Anhänger Allendes, daß das Heer, trotz erklärter Neutralität, diese Machtergreifung durch einen Putsch verhindern würde.

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