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Ausbruch aus der innerkirchlichen Nische

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Solidarität und Gerechtigkeit sind die Maßstäbe für zukunftsfähige Politik, stellen die beiden großen deutschen Kirchen fest. Nur so können die tiefen Risse in der Gesellschaft überwunden werden.

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Solidarität und Gerechtigkeit sind die Maßstäbe für zukunftsfähige Politik, stellen die beiden großen deutschen Kirchen fest. Nur so können die tiefen Risse in der Gesellschaft überwunden werden.

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Am 28. Februar 1997 veröffentlichte die evangelische und katholische Kirche Deutschlands das mit Spannung erwartete Sozialwort „Eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit”. Fast drei Jahre wurde ein Grundtext in breiter Öffentlichkeit diskutiert. 2.500 Stellungnahmen mit insgesamt 25.000 Seiten wurden eingereicht. Darüber besteht kein Zweifel: Das Sozialdokument der Kirchen Deutschlands wird heftige Diskussionen auslösen. Im folgenden Bericht geht es um eine erste Bestandsaufnahme.

Man hatte in den letzten Jahren den Eindruck, daß sich die Kirchen Europas, auch die Kirchen Deutschlands, in eine innerkirchliche Nische zurückziehen. In der katholischen Kirche kam es zu heftigen Auseinandersetzungen über Demokratie in der Kirche, Zölibat und Priestertum der Frau. Natürlich sind das durchaus wichtige Themen, aber sie treffen nicht die dringenden gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Kirche von heute. Auch in der evangelischen Kirche gab es heftige interne Spannungen. Mit dem Sozialwort sind die christlichen Kirchen Deutschlands aus dem innerkirchlichen Ghetto ausgebrochen. Sie bekennen sich neu und bewußt zu dem, was Johannes Paul II. so formulierte: „Der Mensch ist der Weg der Kirche.”

Die zweite überraschende Initiative: Das neue Sozialwort ist ein gemeinsames Wort der beiden großen Kirchen Deutschlands. Es macht hellhörig, wenn Bischof Homeyer von Hildesheim sagt: Mit diesem Wort hat die Ökumene in der Bundesrepublik „eine neue Qualität” erhalten. Und der Vizepräsident des Kirchenamtes der evangelischen Kirche, Barth, betont ausdrücklich: In der Soziallehre beider Kirchen seien während der Vorbereitung „keine spezifischen evangelischen und katholischen Differenzen aufgetreten”. Ist hier die Ökumene bereits Wirklichkeit?

Das Sozialwort beginnt mit einer harten Analyse: Die Bundesrepublik ist durch tiefe gesellschaftliche Risse bedroht. Risse im innerdeutschen So-zialgefüge: die wachsende Arbeitslosigkeit; die neue Armut; die Krise des Sozialstaates; die anhaltenden Spannungen zwischen West- und Ostdeutschland. Dazu die zweiten Risse: die Gefährdung der Umwelt und damit der Sicherheit der kommenden Generation. Und die dritten Risse: Die unbewältigte Verantwortung für die Länder der Dritten Welt.

Damit stellt sich für die Kirchen die entscheidende Frage: Sind die Herausforderungen der tiefen Risse mit dem bisherigen Instrumentar zu bewältigen oder verlangen sie einen radikalen Umbau der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen?

Er ist eindeutig, wird aber Diskussionen auslösen: Die Kirchen sind trotz der harten Analyse grundsätzlich davon überzeugt, daß die soziale Marktwirtschaft und der Sozialstaat auch in Zukunft die tragenden Säulen der Rundesrepublik sein werden. Im gleichen Atemzug fügen sie aber hinzu: Sowohl die soziale Marktwirtschaft als auch der Sozialstaat brauchen dringende Korrekturen.

Die Marktwirtschaft: Die Kirchen lehnen eine „pure Marktwirtschaft”,

wie sie auch heute noch von manchen gefordert wird, eindeutig ab. Sie fordern eine Marktwirtschaft, in der die soziale Dimension und die staatliche Mitverantwortung wesentliche Dimensionen darstellen; eine Marktwirtschaft, die sich wesentlich mehr der ökologischen Verantwortung bewußt ist; eine Marktwirtschaft, die den globalen Herausforderungen nicht ausweicht. Und immer wieder steht im Mittelpunkt: Die größte Herausforderung an die soziale Marktwirtschaft ist die Massenarbeitslosigkeit.

Der Sozialstaat: Die Kirchen sind sich durchaus bewußt, daß die Krise des Sozialstaates zwar nicht ausschließlich, wohl aber sehr wesentlich mit der Krise der Wirtschaft zusammenhängt. Darum ist auch dort anzusetzen. Aber sie scheuen sich nicht, darüber hinaus auf brennende soziale Probleme hinzuweisen: auf die Gefahr, daß die Arbeitnehmer und Rentner wesentlich stärker belastet werden als die Empfänger hoher Einkommen und die Besitzer großer Vermögen. Es gibt eine Sozialpflicht des Eigentums, die nicht zurückgenommen und unterwandert werden darf. Die Kirchen betonen durchaus die Selbstverantwortung und die Bedeutung freiwilliger sozialer Netze.

Aber sie sagen sehr bewußt, daß der Sozialstaat nicht ein „nebengeordnetes Anhängsel” der Marktwirtschaft sein darf, sondern einen eigenen moralischen Wert hat.

Auf ein Sonderproblem weisen die Kirchen ausdrücklich hin: Es zeigt sich immer deutlicher, daß ein Sozialstaat, der auf dem Versicherungsprinzip der Erwerbsarbeit aufruht, nicht mehr ausreicht, sondern dringender Korrekturen und Ergänzungen bedarf. Eines ist für die Kirchen

Deutschlands klar: Die notwendigen „spürbaren Veränderungen” sowohl der sozialen Marktwirtschaft als auch des Sozialstaates bedeuten einen Wandel der Lebensgewohnheiten und Opfer für die Bürger(innen). Diese setzen aber in einer Demokratie einen Grundkonsens voraus. Genau darum geht es den Kirchen in ihrem Sozialwort. Sie wollen einen Beitrag dazu leisten, daß dieser Konsens möglich und tragfähig wird. Dazu bieten sie „Grundlagen und Perspektiven” einer menschengerechten Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft an. Daß sie dabei vom gemeinsamen Wort der Bibel ausgehen, versteht sich von selber. Dort ist für die Kirchen die Würde des Menschen letztlich grundgelegt und aus der christlichen Sicht des Menschen ergeben sich die für die Begründung des Grundkonsenses so entscheidenden Grundsätze der Solidarität und Gerechtigkeit.

Die Kirchen betonen gemeinsam, daß es sich bei den Grundsätzen der christlichen Soziallehre keineswegs um „wirklichkeitsfremde Postulate” handelt, sondern um Einsichten, die in einer „christlich geprägten Kultur auch von NichtChristen” akzeptiert werden können. Diese Aussage ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil die christlichen Kirchen davon überzeugt sind, daß der für die anstehenden dringenden wirtschaftlichen und sozialen Reformen notwendige Grundkonsens nur dann erstellbar ist, wenn er von einer breiten Schicht der Bürger(innen) getragen wird. Das schließt nicht aus, daß es trotz dieses Grundkonsenses Gegensätze und Konflikte geben wird. Entscheidend aber ist, daß eine „Übereinstimmung über Grundelemente der sozialen Ordnung” erreicht wird.

Die Kirchen betonen ausdrücklich: Es geht ihnen im Sozialwort nicht darum, selber Politik zu machen, sondern an den Voraussetzungen mitzuwirken, daß eine menschengerechte und sachgerechte Politik möglich ist. Darum unterscheidet ihr Sozialwort bewußt zwei Ebenen: die Ebene der ethischen Grundlagen und Orientierungen und die Ebene der konkreten Verwirklichung. Für Aussagen der ersten Ebene wissen sie sich aufgrund der Botschaft der Bibel und der christlichen Denktradition zuständig. Die Aussagen für die konkrete Verwirklichung sind als „Beiträge zur öffentlichen Verständigung über Probleme und mögliche Lösungswege” gedacht.

Die christlichen Kirchen Deutschlands sagen in ihrem Vorwort zum Sozialwort ausdrücklich, daß ihr Beitrag nicht als „Sachverständigengutachten” angesehen werden darf. Es geht ihnen primär um ethische Grundlagen und Perspektiven einer Gesellschaft in Solidarität und Gerechtigkeit. Trotzdem ist man überrascht, wie ausführlich und konkret im Schlußteil des Sozialwortes wirt-schafts- und sozialpolitische Maßnahmen behandelt werden. Hier wird bereits Bekanntes und oft Diskutiertes aufgegriffen und in den Denkprozeß der Kirchen eingebaut, zum Beispiel Maßnahmen zum Abbau der Arbeitslosigkeit, Schritte zur Konsolidierung der sozialen Sicherungssysteme, Überwindung der ökologischen Krise, Aufgaben der europäischen Einigung und Verantwortung für die Entwicklungsländer.

Daß es bei der Fülle der Themen zu Verkürzungen kommt, ist verständlich. So fällt zum Beispiel die Darstellung der politischen Ordnung gegenüber der wirtschaftlichen und sozialen Problematik stark zurück. Die Fragen der Landwirtschaft und des ländlichen Raumes werden eher knapp behandelt.

In der ebenso nur kurz behandelten Frage der Einwanderer und Flüchtlinge wird auf ein späteres Dokument verwiesen. Der Wertewandel, der für die Erstellung eines Grundkonsenses entscheidend ist, wird zwar mehrmals angedeutet, aber nicht ausführlich dargestellt.

Rückfragen dieser und ähnlicher Art werden von den christlichen Kirchen Deutschlands durchaus erwartet und begrüßt. Das vorliegende Sozialwort soll keine „abschließende Stellungnahme” sein. Es ist „Teil in dem weitergehenden öffentlichen Gespräch”.

Eines aber soll noch einmal betont werden: Die christlichen Kirchen Deutschlands sind mit diesem Sozialwort aus der Nische der pluralistischen Gesellschaft ausgebrochen, in die man sie nur allzugern verweisen, aber auch verharmlosen möchte. Die christlichen Kirchen haben in einer Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen in eindrucksvoller Ökumene ihre gesellschaftspolitische Verantwortung ausgesprochen. Und das nicht aus politischer Geltungssucht, sondern als Auftrag des gemeinsamen Evangeliums. Sie betrachten ihr Sozialwort als einen Beitrag zu einem offenen Dialog und noch mehr als Verpflichtung zum eigenen glaubwürdigen Handeln.

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