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Balewa führt den Titel „Sir“

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Nigeria, mit zirka 35 Millionen Einwohnern der Bevölkerungszahl nach das größte Land Afrikas, wird am 1. Oktober unabhängig. Was wird aus diesem Land werden? Wird es die führende Großmacht Afrikas oder wird es, ähnlich wie im Kongo, zu chaotischen Abfallsbestrebungen kommen?

Die Küste war den seefahrenden Nationen Europas schon seit langem bekannt. Lagos, die heutige Hauptstadt, war durch Jahrhunderte der wichtigste Einkaufsplatz für die Sklavenhändler, die ihre „Ware“ von den küstennahen Häuptlingen kauften und von hier nach Amerika brachten. Der tropische Urwaldgürtel im Süden des Landes war aber vor der Entdeckung des Chinins ein für Europäer undurchdringliches Hindernis. Erst 1823 gelang es einer Expedition, von Tripolis aus quer durch die Sahara Nordnigeria zu erreichen und wieder zurückzukehren. 1861 kam Lagos unter britische Herrschaft. Von da an begaben sich nach und nach die Stammesfürsten unter britische Protektion, wodurch die vorher dauernd üblichen Stammesfehden aufhörten. Bis 1900 konnte England die Oberhoheit im ganzen heutigen Staatsgebiet erhalten. 1954 erfolgte die Konstituierung als Bundesstaat und die Einteilung des Landes in drei Regionen. Im Süden die westliche und östliche Region westlich und östlich des Nigers, im Norden die weitaus größere nördliche Region. Jede Region hat ihre eigene gewählte Volksvertretung und außerdem ein Oberhaus, in dem die Stammesfürsten ihren Sitz haben. Als letzter wurde 1959 der nördlichen Region die sogenannte interne Selbstverwaltung übertragen. In jeder der drei Regionen ist eine andere politische Partei an der Macht. Im Osten ist es die NCNC (National Council of Nigeria and the Cameroons — gemeint sind die britischen Mandatsgebiete Süd- und Nordkamerun). Die treibende Persönlichkeit dieser Partei ist Doktor Nnamdi A z i k i w e, der in den USA studiert hat. Im Westen ist die von Obafemi A w o-lowo organisierte AG (Action Group) an der Macht. Beide Parteien nennen sich nationalistisch, wobei die NCNC diese Haltung stärker betont. Unter Nationalismus versteht man hier aber einen gesamtnigerianischen Patriotismus unter Hintanstellung der Interessen der einzelnen Völker und Überwindung der Stammesgegensätze. Die unter dem Einfluß der traditionellen Herrscher, also der lokalen 'Aristokratie stehende NPC (Northern Peoples Party) ist mit großem Abstand die stärkste politische Partei der nördlichen Region. Ihr Führer ist der Sardauna von Sokoto, Alhaji Sir A h m a d u B e 11 o, ein Mann aus altem Fulani-Herrscher-geschlecht. Die östliche und westliche Region sind ungefähr auf derselben Entwicklungsstufe. Der Großteil der Bevölkerung besteht aus Bauern, die oft neben den Wurzelfrüchten zur eigenen Ernährung auch Exportfrüchte anbauen. In der östlichen Region ist die Ölpalme vorherrschend, im Westen der Kakao.

Industrie gibt es fast keine, auch nicht im Westen, wo — und das ist einmalig im tropischen Afrika — 35 Prozent der Bevölkerung in Städten leben. Auch die Stadtbewohner haben meistens eine kleine Farm in der Umgebung. Jeder Bleistift, jedes Stück Papier, jede Schraube, jede Flasche, ja buchstäblich alles, außer den Grundnahrungsmitteln und ganz wenigen anderen Dingen, muß aus Europa eingeführt werden und ist entsprechend teuer. In einer Gegend, in der man landauf, landab Kakaofarmen sieht, kostet eine Tafel Schokolade rund das Doppelte des auf der Schleife gedruckten Preises. Die Kakaobohnen werden exportiert wie sie sind, die Mehrzahl der analphabetischen Kakaobauern hat keine Ahnung, wozu sie eigentlich gut sind. In den Städten beträgt der Tageslohn eines ungelernten Arbeiters vier bis fünf englische Schilling (14 bis 17.50 österreichische Schilling). Voraussetzung für eine solche Anstellung ist, daß der Mann englisch sprechen, lesen und schreiben kann. Der Großteil der Kinder besucht heute eine sechsjährige Grundschule, die Möglichkeit dazu ist jetzt in fast allen Gebieten im Süden Nigerias gegeben. Der Andrang zu den höheren Schulen ist viel größer als die Zahl der vorhandenen Plätze, und jedes Jahr bemühen sich viele Eltern umsonst, ihre Kinder in einer Mittelschule unterzubringen. Durch das ungeheuer große soziale Gefälle hat Bildung in Nigeria einen sehr handgreiflichen Wert. Ein Akademiker kann das Doppelte und mehr von dem verdienen, was sein Kollege auf dem gleichen Posten im englischen Mutterland bekommt. Der Osten ist vorwiegend katholisch, im Westen dominieren Methodisten, Baptisten und andere protestantische Glaubensgemeinschaften. In allen drei Regionen zusammen gibt es noch mehr als zehn Millionen Heiden.

Südnigeria gehört zum Verbreitungsgebiet der Tsetsefliege, die die Rinderzucht unmöglich macht. Milch gibt es nur aus importierten Konserven. Es leiden zwar kaum viele Menschen wirklich Hunger, aber die Ernährung besteht einseitig hauptsächlich aus Wurzelfrüchten. Besonders die Kleinkinder haben unter dem Proteinmangel sehr zu leiden. Vollkommen ausgemergelte Kindergestalten, die nur noch aus Haut und Knochen bestehen, werden von verzweifelten Müttern jeden Tag in die Spitäler gebracht. Die Kindersterblichkeit bis zum fünften Lebensjahr soll zwischen 30 und 60 Prozent liegen, genaue Statistiken darüber gibt es nicht. Die beiden großen Völker des Nordens, die Haussa und Fulani, können ohne Übertreibung als alte Kulturvölker bezeichnet werden. Die Fulani, mit ihrer bräunlichen Hautfarbe und den weniger breiten Nasen, sind von den reinen Negervölkern, wie den Ibo der Ostregion, meist auf den ersten Blick zu unterscheiden. Jahrhundertelang kreuzten Karawanenzüge die Sahara, und es bestanden Handelsbeziehungen und kulturelle Bande mit den arabischen Völkern. Auch der Islam kam auf diesem Wege, nur die in die unfruchtbareren Gebiete zurückgedrängte ältere Bevölkerungsschicht, so am Hochplateau von Jos, ist meist noch heidnisch. Das Haussa entwickelte sich zu einer Lingua franca unter den Völkern der nördlichen Region und nimmt heute noch diese Stellung in weitaus größerem Maß ein als Englisch. Schon vor Ankunft der Europäer hatte man Schulen und verwendete arabische Schriftzeichen. Trotz des hohen eigenständigen Kulturniveaus Nordnigerias ist der europäischzivilisatorische Einfluß dort geringer als in den anderen beiden Regionen. Das heißt, es gibt weniger moderne Schulen, noch weniger Industriebetriebe, niedrigere Löhne und kaum noch einheimische Akademiker.

Bei den ersten allgemeinen, in ganz Nigeria abgehaltenen Wahlen am 12. Dezember 1959 ging die NPC als stärkste Partei hervor. Sie stellte dann auch den Premierminister der Zentralregierung, Alhaji Sir Abubakar Tafawa Balewa, der als Gewährsmann des politisch viel mehr aktiven Sardaunas von Sokoto angesehen werden kann. Die Situation, daß eine Partei wie die NPC, deren Stärke nur auf die Größe der nördlichen Region zurückzuführen ist und die in den anderen Regionen überhaupt nicht kandidierte, den Premierminister stellt, wird in den südlichen Regionen viel kritisiert. Nach den Wahlen hatte sich aber die Situation ergeben, daß keine der drei großen Parteien über die nötige Mehrheit verfügte. Die Führer der beiden Parteien des Südens, deren prinzipielle politische Richtung sich ja nur wenig unterscheidet, scheinen sich persönlich aber gut zu vertragen. Man sieht sie oft händeschiittelnd auf Photos, und in ihren respektiven Parteizeitungen bedenken sie sich gegenseitig häufig mit offenen Briefen: „Lieber Zik!“ (so wird Azikiwe allgemein genannt) ... dann wird, nach einer höflichen Einleitung, mit Hilfe von Statistiken des langen und breiten erklärt, wieviel mehr die AG-Regierung des Westens für das Volk getan hat, wieviel mehr Schulen, Krankenhäuser, Straßen usw. sie errichtet hat, und wie wenig im Vergleich dazu die NCNC-Regierung im Osten geleistet hat.

Ein paar Tage später wird man dann in der NCNC-Presse die Erwiderung finden: „Lieber Awolowo!“ .. . und dann wird wieder mit Hilfe von etwas anders zugeschnittenen Statistiken bewiesen, wieviel mehr die NCNC-Regierung im Osten getan hat und wie unfähig die AG-Regierung im Westen ist. Viele Nigerianer glauben, daß es nach dem 1. Oktober doch noch zu einer AG-NCNC-Koalition kommen wird. Die gegenseitige Überbietung im Wahlkampf war nicht ohne Grotesken. Der größte Schlager war wohl die Errichtung einer Fernsehstation in Ibadan, die in Rekordzeit fertiggestellt wurde. „Das erste Fernsehen in ganz Afrika“, erklärte die AG stolz. Dazu muß man wissen, daß Ibadan, diese Großstadt im tropischen Afrika, zum größten Teil aus Erdhäusern besteht, die mit Wellblech gedeckt sind. Die Wasserleitung hört an der Straßenecke auf. Es gibt keine Kanalisation, die Jauche rinnt durch die vertieften Straßengräben ab und Scharen von Hühnern suchen sich heraus, was noch freßba/ ■ ist. Selbstverständlich beeilte sich die NCNC-Regierung, im Osten auch ihrerseits eine Fern-sehstation einzurichten, wurde damit vor den Wahlen aber nicht mehr fertig.

Notwendig wäre eine Stärkung der Zentralregierung, die bis jetzt nur geringe Kompetenzen hat. Die Autonomie der Regionsregierungen geht so weit, daß es zum Beispiel in den drei Regionen eine verschiedene Steuergesetzgebung gibt. Das führt in einem Staat, in dem sich Menschen und Güter frei bewegen können, zu kuriosen Zuständen. Mein Koch, ein aus dem Osten stammender Ibo, der aber schon seit acht Jahren in Ibadan, der Hauptstadt des Westens, ansässig ist, zahlt die für seine Berufsgruppe pauschale Lohnsteuer im Osten, wo sie niedriger ist. Es gibt in Nigeria keine, weißen Siedler, der Anteil der Europäer an der Gesamtbevölkerung beträgt weniger als ein Promille. Die Übergabe der politischen Macht geht seit Jahren schrittweise vor sich, der 1. Oktober ist nur als feierlicher Abschluß dieser Entwicklung zu verstehen. Zur Führung der außenpolitischen Geschäfte, wofür bisher noch die britische Kolonialmacht zuständig war, werden seit längerer Zeit nigerische Diplomaten bei den britischen Auslandsmissionen geschult. Durch die Vielfalt der Stämme und die Verschiedenheit der Traditionen gibt es in Nigeria keinen Politiker, der eine ähnlich dominierende Rolle spielen könnte wie etwa N'Krumah im nicht weit entfernten Ghana. Das scheint eher ein Vorteil zu sein. Es besteht trotzdem keine Gefahr des Auseinanderfallens der Föderation nach dem 1. Oktober. Es gibt in allen Lagern genügend vernünftige Männer, die sich immer wieder zu einer Koalition zusammenfinden werden. Man erwartet sich allgemein von Nigeria sogar einen mäßigenden Einfluß auf exzessiv antieuropäisch-panafrikanische Bewegungen in anderen Ländern.

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