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Balkan in Bewegung

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Mehr denn je birgt der Balkan eine Reihe bedeutungsvoller politischer Probleme. Er war in den letzten Monaten der Schauplatz von Ereignissen, die die Entwicklung in neue entscheidende Bahnen zu lenken vermögen und sich auch in der Neugestaltung Mitteleuropas auswirken müssen. Griff durch die Kleine Entente, die die Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien über den ungarischen Raum hinweg gebildet hatten, früher Mitteleuropa in den Balkan hinein, hat sich jetzt die Richtung der Kraftlinien umgekehrt. Am sinnfälligsten wird dies durch die Verdichtung der Beziehungen, die zwischen Ungarn und Rumänien angebahnt wurden. Bilden diese beiden Staaten tatsächlich die geplante Zollunion, so entsteht am Mittellauf der Donau ein großes wirtschaftliches Gebilde, das als reiches landwirtschaftliches Überflußgebiet berufen sein könnte, zur Ernährungssicherung der Länder am Oberlauf der Donau erheblich beizutragen. In erster Linie für Österreich könnte sich hier die Deckung seines Nahrungsmittelabganges erschließen und ein Absatzgebiet für seine Industrieerzeugnisse finden lassen.

Erheblicher noch als dieses wirtschaftliche Ereignis sind die politischen Entscheidungen, die in Jugoslawien herangereift erscheinen. Eine Nationalversammlung, deren Wahl Josip Broz Tito als Konstituante ausgeschrieben und einberufen hat, gab der südslawischen Innenpolitik in zweifacher Hinsicht eine bedeutende Wendung: sie erklärte Südslawien zum Föderativstaat und beseitigte das Königtum. Beides bedeutet einen Bruch mit der überlieferten Vorherrschaft des Serbentums. Wenn auch König Alexander und Prinz Paul bemüht waren, ein Gleichgewicht der Stämme herbeizuführen und insbesondere Kroaten und Serben auszusöhnen, so wurde das Königtum der Karageorgjevic doch von den Kroaten als ein serbisches empfunden. Der Versuch aber, den südslawischen Staat zu gliedern, wie ihn die Königsdiktatur nach der Ermordung Stjepan Radics und der Auflösung der blutigen Skupstina unternommen hatte, wurde von- den Slowenen nicht minder wie von den Kroaten eher als eine Verstärkung der großserbischen Vorherrschaft empfunden, denn als ein Zugeständnis an ihre berechtigten Forderungen. Wie die föderative Gliederung aussehen wird, die von der Regierung Tito geschaffen werden soll, ist allerdings noch in keiner Weise bestimmt. Eine weitschauende kroatische Politik wird sich daran erinnern, daß auch die Erklärung von Korfu vom 20. Juli 1917 die Beibehaltung des Sabors der Kroaten in Agram zusicherte, daß aber, sobald die Konstituierung des Gesamtstaates erfolgt war, keiner der damaligen serbischen Staatslenker sich dieser ehemaligen Magna Charta des werdenden Südslawenreiches erinnern wollte. Die Dynastie allein war es, deren europäischer Gesichtskreis weit genug war, daß sie die Engherzigkeit dieser Verleugnung erkannte und die Kroaten und Slowenen zu befriedigen bestrebt war. So hielt es König Alexander und noch mehr Prinz Paul. Der Wegfall der Dynastie als ausgleichender Faktor ist daher in dem neuen Südslawenstaat nicht ohneweiters als Bedeutungslosigkeit zu betrachten.

Dies gilt zumal von einer höheren mitteleuropäischen Warte. Denn zu gleicher Zeit erhebt Dimitrow in Bulgarien gleichfalls die Forderung nach Beseitigung des Königshauses. Und wir brauchen nicht weit zurückzublättern in der südslawischen Geschichte, um zu finden, wie leicht nach einer nationalen Katastrophe ein Königshaus beseitigt werden kann. Das Haus Petrovic Njegos“ in Montenegro war ungleich mehr volksverbunden als das Haus Koburg in Bulgarien. Dazu kommt noch, daß König Simeon von Bulgarien ein neunjähriger Knabe ist. Die Velika Narodna Skupstina zu Podgorica hat am 26. November 1918 die alten Petrovice abgesetzt, um wieviel leichter könnte dies eine „Große Sobranje“ in Tirnovo mit dem unmündigen Sohne des Zaren Boris und seinem Hause machen? Wiederum sind in Bulgarien Bewegungen im Gange, die mit den agrarkommunistischen Wellen, die nach dem ersten Weltkrieg Aleksander Stambolijski bewegte, sehr wesensverwandt erscheinen. Jener Stambolijski, der für die „heldenhaften Serben“ warme Worte fand und auf die Zurufe der Radoslavovisten, er sei kein Bulgare, stolz erwiderte: „Ich bin weder Serbe noch Bulgare, ich bin Südslawe!“ Eine südslawische Republik von der Adria bis zum Schwarzen Meer, alle südslawischen Stämme umfassend, Serben 'wie Kroaten, Slowenen, Cicen, Bunjevacen, Mazedonier und Bulgaren, den Unterlauf der Donau weithin, die Save, die Drina, die Morava, den Vardar, die Struma wie die Maritza — die heiligen- Städte Karlovac, Nis, Ochrid, Tirnovo ebenso beherrschend wie das Kossovo Polje, den heiligen Boden des Amselfeldes —, wahrhaftig ein Staatsgebilde, für das sich die leicht erglühende Nationalseele der Balkanbewohner begeistern läßt!

Mit dem nüchternen Blick des Mitteleuropäers gesehen, würde dies die Massierung von Kräften bedeuten, die folgendes Bild geben, wenn man die Ziffern von 1938 zugrundelegti

Bevölkerung Raum: km8

Ungarn..... 7,980.000 92.920

Rumänien . . . . 17,200.000 294.240 Ung.-rum. Zollunion 25,180.000 387.160

Bevölkerung Raum: kms

Südslawien .... 12,020.000 248.990 Bulgarien . . . 5,480.000 103.150

Südslaw. Republik . 17,500.000 352.140

Würde dazutreten, daß diese Gebilde in höherem oder geringerem Maße gegen den Osten sich orientieren, so würden an den Toren Mitteleuropas zwei ebenso wirtschaftlich wie durch ihre Bewohnerschaft militärisch und politisch bedeutende Blöcke lagern, die zusammen ein Gebiet von 739.300 km8 und eine Bevölkerung von rund 42,7 Millionen Seelen umfassen; das ist ein Raum wie Frankreich und England zusammen und eine Bevölkerungsziffer, wie sie Frankreich aufweist.

Von der Ägäis und vom Mittelmeer grenzt sie nur Albanien mit 804.000 Einwohnern und 27.540 km2 und Griechenland mit 5,600.000 Einwohnern und 122.930 km2, zusammen 6,404.000 Einwohner und 150.470 km2 ab.

Ob Albanien die Stütze, die es jenseits der Adria suchen könnte, in dem vom Krieg zermürbten Italien finden mag? In Griechenland aber erhält der Zank der Parteien über die Staatsform den Staat dauernd in Krisen, die nur deswegen noch nicht zu einer Katastrophe der Monarchie geführt haben, weil mit dem griechischen innerpolitischen Problem das unvergleichlich größere, weltpolitische, der Freiheit der Dardanellen und des freien Zuganges des osteuropäischen Großraumes -zum Mittelmeer verbunden ist.

Alle diese Dinge, im Zusammenhang gesehen, zeigen, daß am Balkan Machtfragen im Entstehen sind, die von großer historischer Tragweite werden können.

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