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Der ambitionierte EU-Beitrittskandidat Estland startet dieser Tage mit der Erfassung genetischer Daten seiner Bevölkerung. Kritische Stimmen gegen das Projekt hört man kaum. Patriotische Geschlossenheit und die Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Höhenflug überwiegen.

In sowjetisch-russischen Witzen kamen die Esten auf Grund ihrer angeblichen Langsamkeit generell immer zu kurz. Der eine versäumt ein Rendezvous, der andere den Zug, der dritte, aus demselben auszusteigen. Rechtzeitig aber aus der Sowjetunion ausgestiegen, strafte der nördlichste Baltenstaat dieses despektierliche Stereotyp gehörig Lügen. Im Nu hat das Land Privatisierungen vorgenommen, die andere Reformstaaten erst allmählich beginnen, hat sich als Hochburg der Internettechnologie etabliert, sich in die erste Reihe der EU-Beitrittskandidaten katapultiert und nahm kürzlich bei einer US-Studie über liberale Volkswirtschaften den vornehmen vierten Platz ein. Mit dem Etikett des "baltischen Tigers" gibt sich Estland europäisch weltgewandt.

Estlands Wissenschaft und Wirtschaft konzentriert sich auf die Bereiche Informationstechnologie, Biomedizin und Materialwissenschaften. Weltweite Aufmerksamkeit zieht das Land auf sich, seit es auf Initiative des Präsidenten Lennart Meri im Dezember 2000 keine Berührungsängste mit einem heiklen Terrain gezeigt und sein Großprojekt einer nationalen Gendatenbank angekündigt hat. Die Erbinformation möglichst vieler Esten soll systematisch entschlüsselt und in die nachmalig weltweit größte Datenbank aufgenommen werden. Von deren Vermarktung verspricht man sich das große Geld. So die Idee, die mit einem überwältigenden Parlamentsbeschluss abgesichert wurde.

Fragebogen & 50 Milliliter Blut

Dieser Tage startet nun das Vorhaben, das im Laufe der nächsten fünf Jahre die Daten von zwei Drittel der 1,4 Millionen Esten erfassen und umfassende Angaben zur Struktur des Erbgutes und Krankheitsgeschichten bringen soll. In der ersten Phase sind 10.000 Esten aufgerufen, einen Fragebogen auszufüllen und 50 Milliliter Blut für die Genanalyse zu spenden.

Die Esten waren mit diesem Projekt nicht die Ersten. 1996 wurde in Island begonnen, Gesundheits- und Gendaten der äußerst homogenen isländischen Bevölkerung abzugleichen. Die anonymisierten Ergebnisse daraus, sollen lukrativ an die Pharmaindustrie verkauft werden. Das pazifische Inselreich Tonga folgte dem Beispiel und Großbritannien plant ein ähnliches Projekt. Die Besonderheit des von der gemeinnützigen estnischen Genomstiftung betriebenen Unterfangens liegt aber neben der absoluten Freiwilligkeit der Teilnahme und der Heterogenität der Bevölkerung auch darin, dass der Staat das Heft keiner privaten Firma überlassen hat. Andererseits ist bemerkenswert, dass die Personendaten nach der Anonymisierung grundsätzlich wieder den Gensätzen des Spenders zugeordnet werden können.

Staat wird Gendaten-Händler

Die Daten selbst bleiben Eigentum des estnischen Staates. "Nur die Nutzungsrechte an den anonymisierten Daten dürfen über eine Lizenz verkauft werden", sagt Andres Metspalu, Initiator des estnischen Genomprojekts und Leiter des Fachbereichs Biotechnologie an der Universität Tartu. Eine Ethikkommission soll darüber wachen, dass die Identität der Gen-Spender geheim bleibt. Andere Quellen dürfen nicht in die Datenbank einbezogen werden und der Spender darf seine Daten jederzeit löschen lassen bzw. sie für sich selbst auswerten.

Die Erwartungen an das Projekt sind hoch. Der Datenabgleich soll laut Metspalu klären, welche Zusammenhänge zwischen Genen, Lebensstil, Umwelt und Krankheiten bestehen. Außerdem erhofft man sich Aufschlüsse über genetische Ursachen für Erb- und Volkskrankheiten. Im Fachjargon gesprochen, ist man auf SNPs (sprich "Snips") aus, worunter man kleine genetische Abweichungen im Erbgut versteht, von denen einige Krankheiten oder Abwehrreaktionen gegen Medikamente verursachen können. Eine effizientere und billigere Gesundheitsversorgung durch die Entwicklung individuell angepasster Medikamente steht als Großziel hinter diesem und anderen Genomprojekten - die Entwicklung der Individualmedizin: "das ist die Hoffnung der Zukunft", plädiert denn auch der Arzt Jaanus Pikani, einer der Initiatoren, für den Forschungszweig. Andres Metspalu spricht von der Vision: "In 50 Jahren werden wir alle morgens eine individuell zusammengestellte Pille zur Vorbeugung schlucken".

Daten in falsche Hände?

Groß sind die Erwartungen aber auch auf Seiten der estnischen Wirtschaft. Soll schon das 200-Millionen-Dollar schwere Projekt selbst zum Großteil von privaten Investoren finanziert werden, so erhofft man à la longue, Firmen im Bereich der Genbranche ins Land zu locken. Besonders für Tartu, wo das Projekt durchgeführt wird, malt man sich einen Boom der Bio- und Gentechnologie-Industrie aus.

Die relativ wenigen Gegner des Projektes im Land äußerten ihre Bedenken bislang besonders darüber, dass die Daten in falsche Hände geraten könnten. Betriebe oder Krankenkassenanstalten hätten damit die Möglichkeit, "genetisch gefährdeten" Menschen Arbeitsplatz oder Versicherungspolizze zu verweigern. Außerdem werden den Projektbetreibern Handel mit Krankenakten und ein verkürzter Zugang zum komplexen menschlichen Organismus vorgeworfen. In der allgemeinen Euphorie der Projektumsetzung und der hohen Erwartungshaltungen werden die ethischen Einwände freilich nicht sehr laut. Die Reklame über die angeblich hohe Datensicherheit überzeugt noch die meisten. Und auch in der Ethikkommission überwiegt die patriotische Gesinnung.

Zwei Drittel machen mit

Entscheidend für das Gelingen des Gendaten-Projekts bleibt jedoch ohnehin die Bereitschaft der Esten, daran teilzunehmen. Die Zusage von zwei Dritteln der Esten ist so gut wie gesichert. Nur sechs Prozent wollen dezidiert nicht mitmachen. Estland demonstriert wieder Geschlossenheit und Geschwindigkeit. Damit haben die Esten zumindest bewiesen, dass ihre angebliche Langsamkeit gar nicht genetisch bedingt ist.

Der Autor ist AuslandsKorrespondent in Moskau.

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