Bekenntnisse eines GUTMENSCHEN

19451960198020002020

War's das? Sieht so aus: In den Grenzzäunen und Köpfen verfangen sich meine Ideale. Über persönliche und europäische Werte. Eine Polemik.

19451960198020002020

War's das? Sieht so aus: In den Grenzzäunen und Köpfen verfangen sich meine Ideale. Über persönliche und europäische Werte. Eine Polemik.

Werbung
Werbung
Werbung

Winston Churchill und anderen Politik- und Geistesgrößen wird das Zitat zugeschrieben, dass, wer in seiner Jugend kein Kommunist, Sozialist oder Revolutionär sei, kein Herz habe, wer all das aber auch noch im Alter bleibe, keinen Verstand besitze. Als einer, der in der "KKK-Republik" von Kreisky, König und Kirchschläger aufgewachsen ist, muss ich Churchill und den anderen Größen widersprechen: KKK und ihr Österreich haben mich als junger Mensch geprägt und mir ihr Menschen-,Politik-,Gesellschafts- und Glaubensverständnis als Wertebasis in Herz und Verstand gelegt - und ich sehe auch jetzt keinen Anlass, mich davon loszusagen. Im Gegenteil: Je älter ich werde, je stürmischer die Zeitläufe, je fordernder die Fragen, je ungewisser die Antworten, umso mehr zehre ich davon: vom Hinausschauen über den nationalen und konfessionellen Tellerrand; vom sozialen Ausgleich; vom solidarischen Verantwortungsgefühl; vom "Trockenlegen der sauren Wiesen"

Wer immer die Versäumnisse der Kreisky-Ära ins Treffen führt: Geschenkt! Mir geht es aber um den Über- oder Unterbau, um das, woraufhin man sich ausrichtet und worin man Wurzeln schlägt. Es geht mir um die Werte, um jene Überzeugungen von gutem Leben, die mich seit geraumer Zeit - und heute besonders - zum "Gutmenschen" machen.

Grenzenlose Naivität?

Ich lasse die Geschichte dieses Kampfbegriffes einmal beiseite, spare mir die Fußnoten und das Mitschwingen des Vorwurfs, eine "politisch überkorrekte Spaßbremse" zu sein, und konzentriere mich auf das Substrat: auf das "Gutseinwollen". Die wenigsten Gutmensch-Kritiker werden ja dem "Bösesein" das Wort reden. Nein, sie sind der Überzeugung, dass sie das eigentlich Gute vertreten, während die Gutmenschen in ihrer grenzenlosen Naivität, gepaart mit hochfliegenden Träumen, die Welt in die Katastrophe stürzen.

Wobei zumal der Kritiker im katholischen Milieu seine Kinder gern als Sternsinger von Haus zu Haus ziehen und für internationale Solidarität werben lässt. Nach einem noch zugestandenen pubertären Aufbäumen gegen eine "Wirtschaft, die tötet" (© Papst Franziskus) ist es ihm aber genug mit der Herzensbildung, jetzt wird Realitätssinn und Vernunft gefordert. Die Dimensionen des "Prinzips Nächstenliebe", das in der Erstkommuniongruppe zum ersten Mal thematisiert und im Firmunterricht zum letzten Mal geprüft wird, gehören dabei auf das richtige, weil realistische, weil vernünftige Maß zurechtgestutzt.

Eine, die das vom katholischen Papst ausgerufene "Jahr der Barmherzigkeit" ernst nimmt, ist jedenfalls die Protestantin Angela Merkel. Die deutsche Bundeskanzlerin hat es mit ihren berühmten drei Worten plus Rufzeichen geschafft, genau von jenen vom Thron der Unfehlbarkeit gestoßen zu werden, die sie vorher hinaufgehoben haben. Ihr Satz "Wir schaffen das!" hat die in den letzten Jahren gesammelten Bonuspunkte in der Disziplin "Streng gegen die faulen Griechen" in wenigen Monaten aufgezehrt. Mit Merkels Abstieg in das Reich der Gutmenschen gehen der Abschied von der Willkommenskultur und das grenzenlose Wachstum nationaler Zaun-Unkulturen einher. Quod erat demonstrandum, wie der humanistisch gebildete Abendländer gerne sagt - nicht ohne hinzuzufügen: Kapiert ihr Gutmenschen es noch immer nicht? Gescheitert seid ihr! Und das Schlimmste: Wir müssen das von euch verursachte Schlamassel auch noch aufräumen!

Einspruch! Das Schlamassel richten schon die Kriege und Katastrophen in Syrien und anderswo an. Und weder Merkel selbst noch die Willkommenskultur ist gescheitert. Gescheitert sind wir alle, wir EU-Bürgerinnen und -Bürger. Wir scheitern, weil wir unsere Prinzipien und unser Recht nicht ernst nehmen - das, was sich Europa nach mühsamem Ringen im Europäischen Konvent und mit dem Vertrag von Lissabon ins Stammbuch geschrieben hat: "Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden", heißt es im ersten Satz der EU-Grundrechtecharta - der mit den nationalen Alleingängen seit Anfang der Flüchtlingskrise zigmal verraten wurde.

Sukzessive wurden auch andere gemeinsam festgelegte Werte der Union mit Füßen getreten und von allen Mitgliedsstaaten gemeinsam beschlossenes EU-Recht gebrochen: Artikel 18 und 19 der Charta etwa, die das Recht auf Asyl und den Schutz vor Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung garantieren. Oder Artikel 24 des EU-Vertrags: "Die Mitgliedstaaten arbeiten zusammen, um ihre gegenseitige politische Solidarität zu stärken und weiterzuentwickeln. Sie enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit als kohärente Kraft in den internationalen Beziehungen schaden könnte." Oder Artikel 67 im Vertrag über die Arbeitsweise der EU: "Die Union stellt sicher, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, und entwickelt eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen, die sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet und gegenüber Drittstaatsangehörigen angemessen ist". Wobei Artikel 78 den Begriff "angemessen" mit der Forderung ergänzt, dass "die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll". Aber immer diese Detailverliebtheit!

"Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen"

Pacta sunt servanda - überall sonst ist dieses Juristen-Credo absolute Richtschnur, aber wenn es um Menschen auf der Flucht geht, geben es die EU-Mitgliedstaaten plötzlich billiger. Von gemeinsamen Werten und einer Union, die diesen Namen tatsächlich verdient, ist man weiter entfernt denn je.

Doch als Gutmensch lasse ich damit nicht alle Hoffnung fahren; das kann ich auch den Kritikern nicht antun. Wir brauchen einander, und auch wenn es derzeit nicht danach aussehen sollte: Die Synthese muss und wird gutmenschlich sein, oder wir werden nicht mehr sein. Bis dahin nehme ich mir ein Beispiel an einer Gutmenschin par excellence: "Die Tochter des Pharao kam herab, um im Nil zu baden", heißt es im Buch Exodus: "Auf einmal sah sie im Schilf ein Kästchen und ließ es durch ihre Magd holen. Als sie es öffnete und hineinsah, lag ein weinendes Kind darin. Sie bekam Mitleid mit ihm " Und dann lebte sie das, was Jahrtausende später als naive Willkommenskultur verunglimpft werden sollte: Sie "nahm ihn als Sohn an, nannte ihn Mose und sagte: Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen."

Ein größeres Ziel kann es doch weder für Gutmenschen noch für ihre Kritiker geben, als die Welt im Kleinen wie im Großen vor dem Untergehen zu bewahren.

Der Autor war FURCHE-Redakteur und ist Pressesprecher von Ulrike Lunacek, Vizepräsidentin des Europ. Parlaments und Delegationsleiterin der österr. Grünen

Revolutionen des Gewissens

Mit Beiträgen von Michael Manfé, Wolfgang Machreich, Tania Hölzl, Felix Kramer u.a. Avinius 2015.144 S., PB, € 18,00.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung