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„Bilateralismus“ ein Rückschritt

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MAXIMILIAN BENDA: „Herr Präsident, ich habe auf Einladung des Präsidenten Paul Reynaud an jenem Dėjeuner-Dėbat teilgenommen, bei dem auch Sie das Wort ergriffen haben. Sie haben bei dieser Gelegenheit die Außenpolitik des Staatspräsidenten mit der gleichen Schärfe wie Herr Paul Reynaud angegriffen und unter anderem auf den wiedererwachenden deutschen Nationalismus hingewiesen. Befürchtungen in dieser Richtung werden in letzter Zeit häufig geäußert. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir Ihren Standpunkt präzisieren würden.“ MAURICE FAURE: „Ich möchte davon ausgehen, daß die stete Wie derkehr eines betonten deutschen Nationalismus eine Frage der Natur ist. Deutschland verfügt — im Gegensatz etwa zu Spanien, Italien und England — nicht über natürliche geographische Grenzen. Seine Grenzen waren seit jeher fließend zwischen Ost und West. Geographisch gesehen, waren sie immer fast nach allen Seiten hin offen. Deutschland versuchte diesen Nachteil durch eine kollektive Disziplin, die von jeher stärker ausgeprägt war als etwa bei uns, und einen dynamischen Nationalismus zu kompensieren. Die .fließende Grenze’ zwischen Deutschland und Frankreich — unsere einzige nichtnatürliche Grenze im Norden und Osten — bedingte jahrhundertelang die beiderzeitigen Invasionstendenzen. Nur aus dieser Sicht wird man den chronischen deutschen Nationalismus verstehen und würdigen. Eine europäische Integration — das heißt: die Bildung eines politischen europäischen Blocks —, in der Deutschland eine Provinz des neuen Machtfaktors Europa wäre, würde den Deutschen das Gefühl der Sicherheit geben und unseren beiden Ländern — um dies bei dieser Gelegenheit zu erwähnen — das dynamische Ele ment der Unruhe nehmen. Robert Schuman schwebte dieses Ziel vor.“

B.: „Wie Sie wissen, Herr Präsident, hat der letzte Besuch des Generals de Gaulle bei den Christlichen Demokraten der Bundesrepublik eine Krise ausgelöst; wir sehen uns einer plötzlichen Konfrontation zwischen deutsch-französischen Bilateralisten und den Anhängern der europäischen Integration gegenübergestellt. Darf ich Sie bitten, Ihre Auffassung zu diesem Komplex zu sagen?“

F.: „Ich halte jede Art von Bilateralismus — auch den, dem als Fernziel eine Erweiterung der bilateralen Basis vorschwebt — für schädlich und stelle mich deshalb grundsätzlich gegen ihn. Die vor kurzem erfolgte Bildung einer deutsch-französischen Kommission ist aus europäischer Sicht als Rückschritt und Unklugheit zu betrachten. Eine Akzentuierung des Bilateralismus würde in Europa Mißtrauen säen und die bestehenden Gegensätze noch erheblich vertiefen.“

B.: „Da Sie oft nach der Bundesrepublik Deutschland kommen, werden Sie mir beipflichten, daß die Mehrheit ihrer maßgebenden Politiker und auch die Mehrheit des deutschen Volkes die europäische Integration bejaht und in der abweisenden Haltung de Gaulles gegenüber England den Hauptanlaß zur Krise der europäischen Entwicklung sieht. Als ich über diese Frage vor einiger Zeit mit dem Präsidenten Renė Mayer sprach, ließ er diesen Einwand nicht gelten. Die europäischen Regierungen sollten — so meinte Renė Mayer — ohne Rücksicht auf die Haltung de Gaulles einen handfesten Integrationsplan ausarbeiten und de Gaulle vor unr ausweichliche Tatsachen stellen. Teilen Sie den Standpunkt des ehemaligen Ministerpräsidenten Mayer?"

liehen Welt beklagt wird, so ist darauf zu erwidern, daß diese Vorherrschaft durchaus natürlich ist: Sie liegt in der Machtposition der USA begründet. Dafür gibt es in der Geschichte zahlreiche Parallelen, beispielsweise schon bei Athen und Rom. Wer das Übergewicht der USA beklagt, vergißt oft, daß es in mancher Hinsicht mit der Spaltung und Uneinigkeit in Europa zusammenhängt. Kommt es zur Realisierung einer politischen Europaunion, so wird das Gewicht der USA proportional zur machtmäßigen Gewichtszunahme des europäischen Faktors abnehmen. Auch dies liegt in der Logik der Dinge.“

B.: „Die deutsche Regierung und die Mehrheit der öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik richten ihr Hauptaugenmerk auf die Erhaltung der deutsch-amerikanischen Freundschaft und die Vertiefung der gegenseitigen Beziehungen. Anhänger der Außenpolitik des Generals de Gaulle in Frankreich sehen in der deutsch-amerikanischen

Freundschaft ein Element, das gegen die Zielsetzung und Interessen Frankreichs gerichtet ist. Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen Bonn und Washington?“

F.: „Ich darf Ihnen versichern, daß ich völliges Verständnis für die Politik des Bundeskanzlers Erhard habe. In der gegenwärtigen Situation gibt es für die Bundesrepublik keinen besseren Weg und keine wirksamere Rückversicherung als die enge Zusammenarbeit mit den USA. Es ist völlig illusionär, anzunehmen, daß sich Bonn — vor die Alternative gestellt, zwischen Washington und Paris zu wählen — für Frankreich entscheiden könnte. Wer kann objektiv der Binsenweisheit widersprechen, daß Frankreich nicht in der Lage ist, der Bundesrepublik Deutschland einen wirksamen Schutz gegen die Bedrohung durch den Kommunismus zu bieten!“

B.: „Bonn sieht in der Wiedervereinigung Deutschlands sein oberstes Ziel. Dies steht im Widerspruch zur Auffassung nicht unbedeutender französischer Politiker, die sich zwar grundsätzlich für die Wiedervereinigung aussprechen, jedoch in der gegenwärtigen Situation für die Erhaltung des Status quo eintreten.“

Das geht natürlich nicht von heute auf morgen; die Dinge müssen reifen. Aber der Prozeß hat bereits begonnen. Und ich schließe es nicht aus, daß das Unabhängigkeitsstreben der östlichen Satelliten auf der einen Seite und der zunehmende Druck Chinas auf der anderen das Problem der Wiedervereinigung bereits in etwa zehn Jahren akut machen werden.

In der Zwischenzeit ist jede Befürchtung, daß die USA die Bundesrepublik preisgeben oder — entgegen den übernommenen Verpflichtungen — Berlin verlassen könnten, absolut unbegründet. Auch dieses Mißtrauen ist ein bedauerliches Element der Schwächung der westlichen Welt.“

B.: „Auf welcher konkreten Basis könnte nach Ihrer Meinung die deutsche Wiedervereinigung realisiert werden?"

F.: „Deutschland dürfte an der gegenwärtigen Oder-Neiße-Linie nicht rühren. Es scheint mir bereits jetzt für das Ziel der Wiedervereinigung abträglich, in der Öffentlichkeit gegen diese Grenze zu polemisieren.“

B.: „Herr Präsident, wie beurteilen Sie die Entwicklungen der französischen Innenpolitik? Sie sind dabei, die politische Mitte Frankreichs zu organisieren, und sind beim Kongreß des Rassemblement Dėmo- cratique, der vom 26. bis 28. September 1963 gemeinsam mit dem 60. Radikalsozialistenkongreß stattfand, zum Präsidenten des Rassemblement Dimocratique gewählt worden. Welche Vorstellungen haben Sie von der Zukunftsentwicklung Ihrer Aktion?“

F.: „Es ist in der gegenwärtigen Lage äußerst schwierig, die Zukunft vorauszusagen. Eines scheint mir allerdings sicher zu sein: Wenn der Gesundheitszustand des Staatspräsidenten es ihm erlaubt, wird er sich auf jeden Fall zur Wahl für ein neues Septenat stellen. In diesem Fall dürfte er bestimmt wiedergewählt werden, wenn er auch nicht die hohe Mehrheit erreichen wird, derer er sich bei früheren Gelegenheiten erfreuen konnte.

Was unsere eigenen Bemühungen angeht, einen Block der Mitte zu realisieren — der die Franzosen nach der gegenwärtigen Lethargie zu neuem politischen Leben wecken soll —, so dürfte er bei den Präsidentschaftswahlen von 1965 noch nicht als wesentlicher politischer Faktor ins Gewicht fallen. Aber ich bin davon überzeugt, daß das Rassemblement Democratique in drei oder vier Jahren eine Rolle spielen wird. Vorerst ist es noch zu früh dafür.“

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