Bitte weiter zur PASSKONTROLLE

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Es passiert dann, wenn man es am wenigsten erwartet. Das Ticket ist akzeptiert, das Gepäck eingecheckt. Man hat die Sicherheitskontrolle hinter sich gelassen, den Ausreisestempel im Pass, das Handgepäck verstaut, den Gurt festgezogen. Und dann kommt die Stewardess, und bittet einen recht bestimmt das Flugzeug zu verlassen.

Es sind Momente wie diese, die Weltkinder zittern lassen. So wunderschön aufregend es ist, von einem Land in ein anderes zu reisen -der unmittelbare Grenzübertritt ist immer mit Unbehagen verbunden. Weil es kein Recht auf Reisen, keine Garantie für die Akzeptanz eines Visums gibt, wird die Grenze auch für Freiheitsverwöhnte zu einem letzten Ort der Willkür.

Das Privileg des weinroten Passes

Dabei sind Europäer mit dem Privileg ihres weinroten EU-Passes davon am wenigsten betroffen. In 168 Länder können Österreicher ohne Visum einreisen, bei Finnen, Schweden und Briten sind es sogar 173. Sie besitzen den mächtigsten Pass der Welt, der ihnen am meisten Freiheit zugesteht. Das Schlusslicht bildet Afghanistan. Mit nur 28 Ländern bietet er seinen Inhabern den kleinsten Bewegungsradius.

Und während es für Europäer oft nur ein organisatorisches (und finanzielles) Ärgernis ist, ein Visum zu organisieren, ist es für Bürger anderer Staaten häufig so gut wie unmöglich.

Geschichten wie die von Raman Shresta gehören in der Welt außerhalb Europas zum Alltag. Drei Mal hat der Mittdreißiger aus dem nordindischen Gangtok in den letzten 10 Jahren um ein Touristenvisum für die USA angesucht, um seine Schwester zu besuchen, die in Philadelphia lebt. Drei Mal fuhr er dafür erst vier Stunden mit dem Bus, dann 11 Stunden mit dem Zug nach Kalkutta, um im nächsten US-Konsulat einen Antrag zu stellen. Drei Mal wurde er abgewiesen.

Als Vorzeige-Enterpreneur seiner Region, wird Shresta zwar regelmäßig zu Abendessen mit der amerikanischen Generalkonsularin eingeladen, in die USA reisen darf er trotzdem nicht. Zu groß die Angst, er könnte dort bleiben wollen. Dass er in Indien ein Buchgeschäft mit Kaffeehaus führt, ein Fixpunkt im kulturellen Leben seiner Stadt ist, überzeugt nicht. Allein die Attribute"männlich" und "unverheiratet" reichen aus, um ihn wieder und wieder und wieder abzulehnen, ist Shresta überzeugt.

Seinen Frust teilen reisewillige Mittelstandler in allen Teilen Asiens. Sie erzählen von einer geheimen Liste, die zwischen den Botschaften kursiert. Wer einmal ein Schengen-Visum hätte, bekäme leichter ein US-Visum, heißt es, und vice versa. Eine derartige Datenbank mit Reiseinformationen existiert zwar nicht wirklich. "Es hilft aber, wenn wir wissen, dass Leute nicht zum ersten Mal reisen", erfährt man am österreichischen Konsulat in Neu Delhi.

Grenzen, wie sie gefallen

Die Stewardess führt einen, mittlerweile etwas blass, aus dem Flugzeug, zurück ins Flughafengebäude. "Durch diese Tür, zwei Stockwerke runter", sagt ein Herr. "Drogenkontrolle" steht über der Tür und die 48 Stufen ins zweite Untergeschoss wirken endlos, die Fantasie schlägt Purzelbäume. Der Matcha-Tee muss es sein! Ist das japanische Grünteepulver für die Grenzbeamten suspekt? Die Gelassenheit von jemandem, der sich nichts vorzuwerfen hat, schwindet. Was, wenn sie nicht glauben, dass es nur Tee ist? Was, wenn man nicht ausreisen darf?

"Eine Grenze hat Tyrannenmacht" heißt es bei Schillers Wilhelm Tell. Und obwohl sich der Ausspruch im Originalkontext auf die Grenzen der Macht bezieht, neigt die Psyche in solchen Situationen dazu, das Zitat aus dem Deutschunterricht ganz anders zu deuten: Die Grenze als Ort, wo die Macht der anderen über einen selbst spürbar ist.

Aus eben diesem Grund können Staatsgrenzen - auf der "richtigen" Seite, natürlich - auch ein Ort der Rettung sein, ein Hort der Geborgenheit, ein rettendes Ufer für Flüchtlinge. "Es sind die Schwachen, die Minderheiten, die Mindermächtigen, die Grenzen brauchen; nicht die Starken", schreibt der Philosoph Konrad Paul Liessmann in seinem "Lob der Grenze". Er meint damit nicht nur die persönlichen, moralischen Grenzen, sondern eben auch jene territoriale, deren Überschreitung manchmal den sonst gern Starken ganz unbehaglich zu Mute werden lässt.

Besonders anschaulich zeigt eine Animation, die im Internet kursiert, den Vorteil der Grenzen. Sie dokumentiert deren Verschiebungen in Europa in den vergangenen 1000 Jahren. Im Zeitraffer blickt man auf die territorialen Veränderungen, sieht Großreiche wachsen und wieder zerfallen. Eine simple historische Analyse ergibt: Je größer die Blöcke, je geringer die Zahl der Grenzen, desto gefährlicher wird die kritische Masse, die sich in Kriegen entlädt. Heute ist Europas Landkarte wieder ein bunter Fleckerlteppich. Und mit der Zahl der Grenzen ist es friedlicher geworden.

Doch Frieden können Grenzen nur dann stiften, wenn sie klar definiert und international anerkannt sind. Wie oft das nicht der Fall ist, zeigt sich nicht nur in den Nachrichten aus Kriegsregionen, sondern auch auf Google Maps. Der Kartendienst nutzt nämlich seit einiger Zeit eine gestrichelte Linie, um auf unklare Grenzziehungen hinzuweisen. Die Krim etwa, ist mit dieser Linie umzeichnet. Zumindest, wenn man die Karte von Österreich aus anschaut. Die russische Version hingegen schlägt die Krim Russland zu, in der ukrainischen Version gehört die Halbinsel zur Ukraine. Auch der indische Bundesstaat Arunachal Pradesh ist laut dem chinesischen Google Maps Teil von China, von Indien (und dem Rest der Welt) aus betrachtet gehört er aber zu Indien. Grenzen, wie sie gefallen.

Je durchlässiger, umso stärker

Grenzen können ein beruhigendes Element von Struktur und Bestimmtheit schaffen, oder aber Konflikt und Unsicherheit. Um sie positiv zu nutzen, muss man ihr Paradoxon akzeptieren: Grenzen werden unumstrittener und wirkungsvoller, also stärker, je durchlässiger sie sind. Sie müssen offen sein für alle, die sie überqueren wollen, um die andere Seite zu sehen. "Eine Welt ohne Grenzen ist eine Wüste, eine Welt mit geschlossenen Grenzen ist ein Gefängnis", wusste der deutsch-britische Denker und Politiker Ralf Dahrendorf: "Die Freiheit gedeiht in einer Welt offener Grenzen."

Zurück bei der Drogenkontrolle ist das Döschen mit dem Matcha-Tee dem Grenzbeamten übrigens reichlich egal. Er riecht an der Sonnencreme, kratzt an der Seife, stellt ein paar harmlose Fragen und sagt dann: "Schnell zurück, sonst fliegt das Flugzeug ohne Sie ab." Nach dem Zufallssystem sei man ausgewählt worden, erklärt die Stewardess, als der Flieger endlich in der Luft ist. Jetzt ist sie auch wieder freundlich.

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