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Böse, lockende Zukunft

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Der unwissenschaftlich-lockere, lockende Titel dieses Buches läßt als seinen Verfasser einen der kühn-planenden Futurologen von eigenen Gnaden erwarten, deren Zahl Legion ist. Doch Raymond Aron, Autor zahlreichei wissenschaftlicher Werke, ist Soziologe, Politologe und Wirtschaftswissenschaftler in einem. Im Pariser „Figaro“ schreibt er, Fachmann für einen Kosmos von Weltproblemen, heute über den Kambodschakrieg, morgen über die Universitätskrise und übermorgen über ein EWG-Problem. Gana gewiß glaubt er nicht — was das Fragezeichen im Titel vermuten lassen könnte — daß es mit dem Fortschritt zu Ende geht. Mit dem technischen versteht sich: Er allein ist nicht utopisch, der am Ende eines Rattenschwanzes von Fortschritten in allen wissenschaftlichen Disziplinen, aucli noch den wirtschaftlichen und industriellen bewirken soll.

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Der unwissenschaftlich-lockere, lockende Titel dieses Buches läßt als seinen Verfasser einen der kühn-planenden Futurologen von eigenen Gnaden erwarten, deren Zahl Legion ist. Doch Raymond Aron, Autor zahlreichei wissenschaftlicher Werke, ist Soziologe, Politologe und Wirtschaftswissenschaftler in einem. Im Pariser „Figaro“ schreibt er, Fachmann für einen Kosmos von Weltproblemen, heute über den Kambodschakrieg, morgen über die Universitätskrise und übermorgen über ein EWG-Problem. Gana gewiß glaubt er nicht — was das Fragezeichen im Titel vermuten lassen könnte — daß es mit dem Fortschritt zu Ende geht. Mit dem technischen versteht sich: Er allein ist nicht utopisch, der am Ende eines Rattenschwanzes von Fortschritten in allen wissenschaftlichen Disziplinen, aucli noch den wirtschaftlichen und industriellen bewirken soll.

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Besser scheint daher das Anliegen des Autors im Titel: „Progress and Disillusion“ der englischen Originalausgabe ausgedrückt. (Der des französischen Manuskripts bleibt ungenannt) Doch ist „Disillusion“ nicht auf eine Täuschung bezogen, der man sich über den zukünftigen Fortschritt hingibt, sondern auf eine seine Wirkung betreffende: Durch sein Überhandnehmen wird er zu einer Art von „Fatalität“. Vom technischen Fortschritt her droht menschlicher Rückschritt.

Wie weit ist die Egalite schon verwirklicht? Gibt es sie schon irgendwo, die klassenlose Gesellschaft? Im Osten? Westen? In der Dritten Welt? Weder noch: Denn die Industrie-gesellschaft kommt ohne hierarchische Ordnung nicht aus und die Völker und ihre Regierungen nicht ohne Oligarchien, die kommunistischen nicht und auch die mit „freien Wahlen“ nicht. So bleibt die Gleichheit eine Fata Morgana. Was keineswegs ein Nachteil ist: Die Unzufriedenheit gerade darüber stimulierte den Fortschritt, hat als „geschichtliche Triebkraft“ fungiert. Auch die Egalisierung der Rassen ist weder durch Integration, noch durch Separation zu erreichen; da „möglicherweise die Individuen um so mehr zur kollektiven Eigenliebe neigen, je weniger sie persönlich Grund zum Stolz haben“. Wohl sind die Konflikte zwischen den wirtschaftlichen Klassen, den politischen Minderheiten und Massen, zwischen den Ethnien, Nationalitäten und Rassen gemindert worden, aber die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit der Egalität besteht fort. Die Hebung des Lebensstandards, die jene Spannungsminderung herbeigeführt hat, setzte ihrerseits einen hohen Grad von Sozialisation voraus, die wieder ihre eigene Dialektik hat. Ihr ist der zweite Teil gewidmet, den wir vereinfachend als die Beschäftigung mit dem Problem der Freiheit in der industriellen Gesellschaft deuten. Wie wirkt sich die Apparatur der modernen Technik auf die Soziali-sierungs-Institutionen, auf Kirchen, Schulen, Massenmedien usw. und durch diese wiederum auf das „soziale Wesen“ schlechthin, auf den Menschen aus, dem die Wissenschaft heute gleichzeitig eine früher undenkbare Freiheit der Wahl gewährt? Wie nützt er diese Freiheit? Das heißt die Frage nach der Gleichheit noch einmal stellen. Denn die Ungleichheit ist immer auch zugleich Quelle der Unfreiheit. Wie weit ist die Emanzipation der Frauen von der Bevormundung durch die Männer, jene der Schüler durch die Lehrer, des Individuums durch die Massen fortgeschritten, wie weit ist sie überhaupt möglich? Wie weit ist sie sinnvoll? Der Arbeiter, längst einsichtig geworden, zerstört die Computer nicht, wenn sie ihm vorübergehend das Brot wegnehmen, wenn er auf dem Weg zum Mit-airbeitertum nicht ans Ziel gelangt Die Druckknopfgesellschaft ist so fern, ja unmöglich, wie der Druckknopfkrieg.

Konsequenterweise wird nun auch der Inhalt des letzten Abschnittes, der von der „Dialektik der Universalität“ handelt, in die Frage umgekleidet: „Sind heute schon alle Menschen Brüder geworden?“ Immerhin haben sie nur noch eine einzige gemeinsame Geschichte. Auch schon eine Art planetarischer Sprache: das Englische. Und natürlich eine universelle Technik mit allem, was von ihr abhängt. Wird aber die Tendenz zu immer größer werdender Universalität eines Tages zu deren Vollendung führen? Kann es überhaupt jemals eine planetarische Gesellschaft geben? Besteht die LordRussel-Initiative: Weltstaat oder Vernichtung im Jahre 2000! immer noch? Man darf es dem Autor nicht verübeln, wenn er den Satz, mit dem er seine Frage beantwortet, mit einem „Möge der Himmel helfen“ beginnt. Aber heißt es die Dinge nicht doch verniedlichen, wenn er, wägend zwischen optimistischem Furchtfrieden und pessimistischem KoUektivseltostmord, gleichsam achselzuckend meint: Die Menschheit hat immer gefährlich gelebt! Wie ernst hat vor einem Jahrzehnt Jaspers diese Dinge beschworen! So ist der Mensch: Je länger ihm eine Gefahr droht, um so kleiner scheint sie ihm zu werden. Als ob sie sich körperlich von ihm entfernte. Als wären Nuklearwaffen und Prolifera-tion usw. schon einmal dagewesen.

Dieser Autor ist kein Seher und will auch keiner sein: „Die Menschen haben niemals die Geschichte gewußt, die sie machten, und das ist auch heute noch so.“ Und so prophezeit er denn nur: Keine Gewähr! — daß nicht das uralte Gesetz der Gewalt ein Uberleben des Ganzen verhindert denn wo wäre bei der Manipulierbarkeit der Meinungen Sicherheit, daß Patriotismus nicht in Chauvinismus umschlägt? Doch es ist auch Hoffnung! — daß die Staaten auch das Atomzeitalter in Unabhängigkeit (ohne Föderation, ohne gemeinsame Außenpolitik, aber mit gemeinsamem Markt) durchstehen werden, falls die „weltlichen Religionen“ (Aron ist der Vater dieses vielbenützten Ausdrucks), die Ideologien, wie schon bisher in Ost und West, auch weiterhin ihre Bedeutung mehr und mehr einbüßen, denn da wie dort erfährt der angefeuerte Wille zu Macht und Reichtum steigende Befriedigung. Nur die Grundzüge des Werkes konnten aufgezeigt werden. Jede Seite desselben jedoch ist angefüllt mit letztem Wissen um unsere Zeit.

FORTSCHRITT OHNE ENDE?, von Raymond Aron. Bertelsmann Sachbuchverlag. Gütersloh 1970. 287 Seiten, Leinen DM 10.—.

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