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Bolivien wählt

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Wenige Wochen vor den Parlamentswahlen vom 3. Juni hat man in Bolivien den zehnten Jahrestag der Revolution gefeiert. Ihr Sieger, der MNR — Nationalrevolutionäre Bewegung —, ist durch Stimmzettel nicht zu gefährden. Wenn 1961 auch noch dreimal der Ausnahmezustand verhängt wurde, sind die Putschversuche von außen zum Scheitern verurteilt, weil das neue Heer sich mit der Revolution identifiziert. Die „zweite Revolution“ durch die Spaltung des MNR wird oft diskutiert, ohne aktuell zu sein. So stark die Gegensätze zwischen dem rechten Flügel unter dem Präsidenten Dr. Victor Paz Estenssoro und der linken Fraktion unter dem Vizepräsidenten und Gewerkschaftsführer Juan Lechin auch sein mögen, bei „Wahlen“ wird der MNR von den politischen Komitees intensiv als „Einheitsfront“ organisiert.

Seit der Revolution haben auch die Analphabeten, die trotz der Verdoppelung der Schulen immer noch drei Viertel der Bevölkerung ausmachen, das Stimmrecht. Daher werden die Stimmzettel — nach indischem Vorbild — farbig gedruckt, zum Beispiel die der Regierungspartei in Rosa.

Die Träger der Revolution, die „Campesinos“, die Landleute, und die „Mineros“, die Arbeiter in den Zinnminen, bilden die klare Mehrheit unter den 1,200.000 Wählern. Hierzukommt, daß sich als Nutznießer der Revolution eine neue Klasse von Berufspolitikern entwickelt. Nach der Statistik des Arbeitsministeriums beziehen unter 140.000 Minen- und Industriearbeitern 10.760 Gewerkschaftsführer (1 Funktionär auf 13 Organisierte), ohne produktive Arbeit ihren vollen Lohn.

Der MNR ist seines Wahlsieges so sicher, daß er seine Kraft in völlig demokratischen Formen auf die Probe stellt. Die Expräsidenten des von ihm 1952 gestürzten Regimes (Enrique Hertzog und Mamerto Urriulagoitia) sind sogar aus der Emigration zurückgekehrt, um die Chancen ihrer Partei (des PURS = Partido Union Republi-cano) zu erproben (die in der Stadt Sucre viele Anhänger hat).

Sieben Oppositionsparteien gehen zersplittert zur Urne. Sic stützen sich vor allem auf den städtischen Mittelstand. In Regierungskreisen rechnet man damit, daß die Opposition in der Stadt La Paz 40 Prozent und in den Städten Cochabamba und Sucre einen noch höheren Prozentsatz erreichen wird.

Die größte Oppositionspartei, die auch für die meisten Gegenrevolutionen der letzten Jahre verantwortlich gemacht wird, ist die „Falange Socia-lista Boliviana“, deren Wahlpropaganda sich auf die erstaunliche Feststellung gründet, daß der MNR Bolivien dem „nordamerikanischen Imperialismus“ ausgeliefert habe. Weiter haben eine Splitterpartei des MNR unter dem Ex-minister Walter Guevara und die Christlichsosziale Partei lokale Chancen. Die Trotzkisten (POR = Partido Obrero Revolucionario), die gleich mit zwei feindlichen Listen an die Urne gehen, und die Kommunisten (PIR = Partido Izquierdo Revolucionario — linksrevolutionäre Partei) haben keine Bedeutung.

Die Opposition bestreitet nicht die Ziele der Revolution, die Enteignung der Zinnminen und die Agrarreform. Sie kritisiert nur ihre Durchführung. Der MNR hat den Grundbesitz von mehr als 800 Hektar zerschlagen und bisher mehr als 100.000 neue Besitztitel ausgestellt. Die Propaganda sagt, die „Sklaven“ seien zu „Herren“ geworden, während die Opposition antwortet, daß die Tyrannei der Gewerkschaften an die Stelle der Willkür der Gutsherren getreten sei. Auch die Regierung bestreitet nicht, daß die Agrarproduktion nach der Teilung des Landes sehr stark gefallen ist. Es fehlen die Mittel, um Samen, Werkzeuge und t Wohnungen in genügender Zahl zu beschaffen. Der Indio ist Jahrhunderte hindurch als Sklave behandelt worden. Man kann nicht erwarten, daß — trotz mitreißender Revolutionspropaganda — plötzlich die Fähigkeit zu wirtschaftlicher Initiative oder auch nur wirtschaftlichem Denken erwacht. Jedenfalls produziert der „Herr“ weit weniger als der „Sklave“, nämlich — wi« allgemein anerkannt wird — nur sc viel, wie er zu seinem notdürftigen Eigenbedarf braucht.

Ebenso hat die Enteignung der großen Zinnminen zu wirtschaftlichem Abstieg geführt. Die Produktion in den Staatsminen ist von 26.000 auf 14.000 Tonnen jährlich gesunken. Die Staatsminen weisen 1960 einen Verlust von 12,5 Millionen Dollar aus. Die Mineralr-eserven sind erschöpft, die Maschinen abgenutzt und veraltet.

Die Produktion des einzelnen Arbeiters ist unter die Hälfte gesunken. Hierzu haben fehlendes Verantwortungsgefühl und politische Agitation ebensoviel beigetragen wie die unregelmäßige Zahlung der Löhne — im Durchschnitt 65 Schilling täglich — und die unzureichende Versorgung der „Pulperias“, der Konsumgeschäfte, auf die er angewiesen ist.

Da Bolivien (zu 80 Prozent) von der Zinnausfuhr abhängt, hätte ihr Rückgang zum Weg in das Chaos und damit zum Kommunismus führen können. Deshalb haben die USA in acht Jahren etwa 180 Millionen Dollar (für 3 Millionen Menschen I) als Wirtschaftshilfe gegeben — im Vergleich zur Bevölkerungszahl weit mehr als irgendeinem anderen lateinamerikanischen Lande —, trotz der ,-,klassen-kämpferischen Revolution“. Aber man sieht von diesen Millionen nichts — außer einigen hervorragenden Chausseen — und vergißt, für sie zu danken.

Um die staatliche Minengesellschaft Comibal und damit die bolivianische Wirtschaft zu sanieren, haben die Vereinigten Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und die Interamerikanische Entwicklungsbank (BID) die sogenannte „Dreiecksoperation“ vereinbart. Sie wollen in drei Jahren die Summe von 37 % Millionen Dollar aufwenden, um neue Minen aufzufinden, die Maschinen zu modernisieren und die Belegschaft (27.000 Arbeiter und Angestellte) rationell einzusetzen. Während die USA und die BID die erstjährigen Zahlungen geleistet haben, hat die Bundesrepublik. Deutschland, statt der zugesagten 3% Millionen Dollar nur 2 Million^/^Jpll^Jzur Verfügung gestellt. Aber auch sie sind durch finanztechnische Meinungsverschiedenheiten zwischen der überweisenden Kreditanstalt und der BID noch nicht eingetroffen. Durch die Verzögerung ist ein großer Schaden bei der Durchführung der Dreiecksoperation entstanden, der gerade bei der ersten multilateralen Entwicklungshilfe der Bundesrepublik in Südamerika hätte vermieden Werden müssen.

Weiter hatte die bolivianische Regierung — als erste! — schon auf der Konferenz von Punta del Este über die „Allianz für den Fortschritt“ einen Zehnjahresplan vorgelegt, der am 1. Jänner 1962 beginnen sollte. Aber die USA verlangen weitere Sachverständigengutachten, eine Haltung, die den Vizepräsidenten und Arbeiterführer

Juan Lechin auf dem Gewerkschaftskongreß zu der Feststellung veran-laßte, daß sich das bolivianische Volk durch die nordamerikanische Hilfe betrogen fühle. Er fand Beifall — auch bei Politikern und Zeitungen, die ihn sonst ablehnen. Die Opposition bemüht sich zum Teil im Wahlkampf, Lechin auf eine Stufe mit Fidel Castro zu stellen. Aber er manövriert zwischen allen Fronten. Er war lange Zeit in New York und hat auf Formosa erklärt, gegen die Anerkennung Pekings in den UN zu sein. Seine Kongreßerklärung für die Annahme auch der östlichen Wirtschaftshilfe deckt sich mit der offiziellen Regierungspolitik. Der Präsident Dr. Paz Estenssoro hat schon vor mehr als einem Jahr im Parlament erklärt, daß eine Mission nach Moskau fahren solle, um einen

150-Millionen-DolIar-Kredit — u. a. für eine Zinnschmelze und hydroelektrische Werke — zu unterzeichnen. Im Oktober 1961 ist zwischen der bolivianischen Minenbank und den Tschechen ein Vorvertrag über die Lieferung einer Antimonschmelze zustande gekommen, der im April 1962 in Prag endgültig abgeschlossen werden sollte. Aber bisher sind die Bolivianer weder nach Moskau noch nach Prag gefahren. Manche meinen in La Paz, daß sie die Ostverhandlungen nur als Druckmittel gegen Washington führen. Aber die Masse des MNR ist jedenfalls für diplomarische Beziehungen zu Moskau. Minister aus der Tschechoslowakei und Jugoslawien und der So-tvjetbotschafter aus Mexiko geben sich im bolivianischen Außenministerium iie Türklinke in die Hand.

Vizepräsident Lechin sprach sich auf dem Gewerkschaftskongreß für eine neutralistische Haltung im Weltkonflikt und die Unterstützung aller nationalen Freiheitsbewegungen aus, um eine nochmalige Spaltung wegen der Kubafrage zu verhindern. Aber daß Bolivien zum Osten führt, wie manche meinten, scheint ausgeschlossen.

Zu seinem engsten Kreise gehören übrigens aufrichtige Freunde der Bundesrepublik Deutschland (wie der Präsident des Auswärtigen Ausschusses, Senator Dr. Ciro Humboldt, der gerade Berlin besuchte, und der Unterstaatssekretär Dr. Evert Mendoza, der bis vor drei Jahren in Bonn Jura studierte). Um so mehr muß man es bedauern, daß nur Gewerkschaftsführer der sogenannten DDR auf dem Gewerkschaftskongreß in La Paz erschienen.

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