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Bonner Schonfrist abgelaufen

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Seit einigen Wochen ist die „Schonfrist“ in Bonn abgelaufen, die in demokratischen Staaten einer Regierung gewährt wird, wenn sie die Verantwortung übernommen hat. 100 Tage gelten als der Zeitraum, in dem die Opposition einer neuen Regierung Zeit für Einarbeitung und Überdenken eigener Initiativen läßt. Wie erinnerlich, war es nach dem 28. September, dem Tag der Bundestagswahl, zu einem Bündnis der zweitstärksten mit der drittstärksten Partei, also zwischen SPD und FDP, gekommen, das Willy Brandt zur Kanzlerwürde erhob, nachdem die CDU-CSU knapp unter der Fünfzig-prozentgrenze geblieben war.

Mögen viele diese Manipulationen auch als schädlich ansehen, bisher hat sie trotz ihrer schmalen Basis im Bonner Parlament funktioniert. Das Gerede über die Ubertrittsabsicht einiger Liberaler zur CDU ist im Frühjahr 1970 leiser geworden. Allerdings versicherte der frühere FDP-Vorsitzende, Dr. Mende, dem Schreiber dieser Zeilen, er gebe seinen Fraktionsfreunden ein Jahr Frist, bis ein Urteil über die Zweckmäßigkeit der linken Koalition möglich sei. Mende ist Nationalliberaler und läßt keinen Zweifel daran, daß er das Ende des Liberalismus im Parlament bei Neuwahlen für möglich hält.

Nicht eingelöste Versprechen

Mit dem Anspruch, „mehr Demokratie“ anbieten zu wollen, stellte sich die Regierung Brandt dem Bundestag vor. Ihre sachlichen Versprechungen waren in jedem Fall übereilt abgegeben. So wurde die Verdopplung des Arbeitnehmerfreibetrages zugesagt, konnte aber wegen der gefährlich ansteigenden Preiswelle im Bundesgebiet bisher nicht verwirklicht werden. Auch die Ankündigung, die Rentner würden 50 DM Zulage zu Weihnachten erhalten, blieb ohne Ausführung, da die Bundeskasse so viel nicht hergeben konnte.

In Wirtschaftskreisen war man enttäuscht, daß die „Ergänzungsabgabe“ — einst eingeführt als Mittel zur Re-

gelung der Konjunkturpolitik — entgegen dem Versprechen der neuen Regierung vorerst bleibt. . . Seitdem in Bonn von Steuererhöhungen gesprochen wird, ist auch der Glanz Professor Schillers, des Wirtschaftsministers, selbst bei Parteifreunden schwächer geworden.

Man sagt, daß bei fast jedem Vorstoß im Kabinett der Wirtschaftsminister auf der Strecke bleibt. Die Kritik des linken Flügels der SPD gilt allerdings anderen prominenten Genossen. An erster Stelle dem Verteidigungsminister Schmidt (Hamburg), der sich in seine Konzeption höchst ungern von Dilettanten hineinreden läßt; aber auch Bundestagsvizepräsident Schmitt-Vockengausen hält sich nur durch Unterstützung von Kabinettsmitgliedern, während seine Basis in der Partei zusehends schmäler geworden ist.

Auf einem Gebiet macht die neue Regierung besonders von sich reden: Sie, die davon gesprochen hatte, sie suche die Mitarbeit auch kritischer Kreise, geriet gerade mit einem Teil der deutschen Presse in tiefen Zwist. Nachdem vor allem das Zweite Deutsche Fernsehen, aber

auch Zeitungen des Springer-Konzerns kritische Kommentare gebracht hatten, meldeten sich SPD-Parteifunktionäre massiv zu Wort. Bei der genannten Fernsehanstalt trafen Fernschreiben ein, in denen — noch am selben Tage — eine Rechtfertigung verlangt wurde. Regierungssprecher Ahlers drohte den Springer-Zeitungen sogar in einem Interview mit der Grundgesetzbestimmung, in der die Verwirkung von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit bei verfassungsfeindlicher Tätigkeit niedergelegt ist.

In der neuen Rolle

Alle Parteien im Bundestag müssen sich in ihrer neuen Rolle erst einüben. Dies gilt auch für die CDUCSU, bei der es einige Politiker nach 20jähriger Tätigkeit in der Regierung schwer haben, sich auf die veränderte Lage umzustellen. Neben Kurt Georg Kiesinger zeichnen sich als führende Persönlichkeiten der Opposition klar erkennbar der Fraktionsvorsitzende Dr. Rainer Barzel, der frühere Forschungsminister Dr. Gerhard Stoltenberg und der Abgeordnete Heinrich Köppler aus, der sich mit dem Angriff auf den Fortbestand der SPD-FDP-Koalition in Nordrhein-Westfalen eine schwierige Aufgabe vorgenommen hat. Wie tragfähig die Mehrheit von sieben Abgeordneten sein wird, das hängt nicht zuletzt von dem Ausgang der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland ab. Sollte die FDP dabei erhebliche Einbußen erleiden, dann würde sich ohne Zweifel die bisher schweigende Minderheit in der FDP-Bundestagsfraktion ermuntert fühlen, die gegenüber dem Bündnis mit den Sozialisten starke Vorbehalte hat. Anderseits bleibt in der CDU/CSU vorerst unklar, wer die Partei 1973 in den Kampf führen wird, um die Regierungsverantwortung zurückzugewinnen.

* Franz Lorenz von Thadden ist Abgeordneter der CDU im Deutschen Bundestag und weder verwandt noch identisch mit dem Führer der rechtsradikalen NDP.

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