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Braucht Europa wirklich eine Seele?

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Österreichische Journalisten fuhren nach Brüssel, um kirchliche Spuren zu entdecken. Ernüchternde Bilanz: Die Kirchen sind in der EU bestenfalls irgendwie präsent.

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Österreichische Journalisten fuhren nach Brüssel, um kirchliche Spuren zu entdecken. Ernüchternde Bilanz: Die Kirchen sind in der EU bestenfalls irgendwie präsent.

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Wer kann Europa eine Seele geben? Jenseits der wirtschaftlichen Fragen wird das Wort, das der vormalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors - Sozialist und bekennender Katholik - im Mund führte, immer wieder in die Diskussion um und über Europa eingebracht. Die Kirchen? Die Christen? Europas Exegeten führen obigen Seelenspruch bis zu den Gründervätern der europäischen Einigung zurück und stellen so eine Verbindung zwischen Religion, Transzendenz und der Idee Europa her.

Eine Gruppe österreichischer Journalisten kam für mehrere Tage in die EU-Zentrale Brüssel, um dem Verhältnis von Kirchen und Europäischer Union vor Ort nachzuspüren. In der flämischen Universitätsstadt Löwen, 25 Kilometer östlich von Brüssel, begegnete die Gruppe dem Jesuiten Jan Kerkhofs, Nestor der Pastoraltheologie und Mitautor der Europäischen Wertestudie, der größten europaweiten soziologischen Untersuchung.

Man kann und muß Europa eine Seele geben, meint Kerkhofs: Es gibt Werte, die Europa einen, und die nicht nur von der Angst herrühren (viele Menschen wollten „mehr” Europa bloß aus Angst vor einer Hegemonie der USA, vor der Vorherrschaft Ostasiens ...). Dagegen stünden die Menschenrechte, die Ehrfurcht vor dem Gewissen, der durch und durch europäische Wert der Toleranz, das Prinzip der Subsidiarität (ein wesentlicher Bestandteil der christlichen Soziallehre), die soziale Marktwirtschaft (eine europäische Erfindung!): Der Versuch, all das zu verwirklichen und diesen Werten treu zu bleiben, bedeutet nach den Worten Jan Kerkhofs', Europa eine Seele geben.

Doch wollen Europäische Union und deren Institutionen tatsächlich, daß eine Seele Europas Wirklichkeit wird? Jacques Delors, so wurde von fast allen Gesprächspartnern in Brüssel bestätigt, wußte, daß Perspektiven und Visionen jenseits des Alltags notwendig sind; im EU-Brüssel bedeutet dieser Alltag zumeist Knochenarbeit:

Lobbying, das Durchsetzen von Interessen (auch kirchlicher), der Zusammenschluß mit Bündnispartnern ... Viele Geschichten kursieren - von der extremen Fragmentierung dieser Interessen (beispielsweise wird vom Lobbying zweier Universitätskliniken aus Birmingham in England berichtet, die jeweils ein eigenes Büro in Brüssel eröffnet haben, oder von der Brüsseler Vertretung der Kartoffelschnaps brennenden Bauern aus Deutschland) und vom langen Atem, der notwendig ist, um etwas zu erreichen.

Jacques Delors jedenfalls rief vor neun Jahren eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe ins Leben, die nicht der Tagespolitik verpflichtet ist - „Cellu-le des prospectives” ist der klingende französische Name, auch die englische Bezeichnung „Forward Studies Unit” verspricht Zukunftsarbeit. Thomas Jansen, Politologe und eines der zwölf Mitglieder dieser Gruppe (vom Physiker bis zum Theologen reicht die Bandbreite), will so die Europäische Kommission für Zukunftsfragen sensibilisieren. Schließlich sind Europas Instutionen äußerst schwerfällig: drei Jahre dauert es etwa, bis Ideen der „Cellule des prospectives” ins Denken der Europäischen Kommission Eingang finden; bis die Ebene des Europäischen Parlaments dauerhaft erreicht wird, muß man gar mit fünf Jahren rechnen. Immerhin seien, so Jansen, Konzepte, die aus der Arbeit der „Cellule des prospectives” resultieren, auch in den Luxemburger EU-Beschäftigungsgipfel eingeflossen.

Soll Kirche bloß die Europa-Idee fördern?

Aber hat das Europa der Institutionen so etwas wie eine Perspektive der Transzendenz? Hinter der Alltagsrealität des Interessenhandels wird auch heute die Vision des geeinten Europas beschworen. Sind dazu Kirchen als Instutionen jener Transzendenz (und als wesentliche Träger des Kulturerbes Europas) gefragt? Die Bealpolitik gibt ernüchternde Antwort: Beispielsweise konnte in den Vertrag von Amsterdam, der im Juni unterzeichnet wurde, keine Aussage über die Kirchen in Europa hineingeschrieben werden. Zwar wurde eine Zusatzerklärung über die Kirchen verabschiedet, die allerdings auch wenig Visionäres hergibt, geht es in ihr doch vor allem um die Festschreibung von Besitzständen.

Als Mitglied eines der obersten Denkzirkel in der Europäischen Kommission reklamiert Thomas Jansen dennoch EU-Interesse für den Kontakt zu den Kirchen; Jacques Santer betone das immer wieder. Bei der größten kirchlichen Manifestation dieses Jahres, der Europäischen Ökumenischen Versammlung in Graz, glänzte der amtierende Kommissionspräsident jedoch durch Abwesenheit: Santer sei leider viel zu spät eingeladen worden und war terminlich nicht frei, so die Erklärung von Jansen, der seinen Präsidenten in Graz - auch durch eine Bede vor dem Plenum der Ökumenischen Versammlung - vertrat. Vielleicht drückt diese Episode etwas vom schwer greifbaren Verhältnis von Kirchen und EU aus, das - von mehreren Seiten betrachtet - als nicht wirklich klar gilt. Auch der Vatikan hat erst vor kurzem eine eigene Nuntiatur für die EU eingerichtet; besetzt ist der diplomatische Bischofsstuhl bis heute nicht.

Was erwartet die EU aber von den Kirchen? Vordenker Thomas Jansen bleibt unverbindlich: Eigentlich will Brüssel von den Kirchen einen Beitrag zur Sinnstiftung und zur Förderung des europäischen Gedankens. Man treffe sich regelmäßig mit Vertretern der Kirchen, auf Beamtenebene und als Europa-Parlamentarier. Ob die Kirchen Gewicht haben? Moralisch-ethisch? Visionär? Nach vier lagen Brüssel gibt es keine deutliche Antwort. Auch herausragende Persönlichkeiten eines Kuropas der Kirchen scheinen nicht sichtbar.

Was von den Kirchen bleibt, ist eine Vielzahl von Organisationen, mehr oder weniger vernetzt und verschiedene Ebenen repräsentierend. Es gibt eine Kommission der katholischen Bischofskonferenzen in der EU und ein Pendant dazu, das von den reformatorischen Kirchen beschickt wird. Oder die Caritas Europa (katholisch) und die Eurodiakonie (protestantisch), die in Brüssel politisches Lobbying betreiben sowie Finanzierungsmöglichkeiten für Programme suchen. Gerade im Bereich ethischer Fragen (Gentechnik, Sozialpolitik) sind kirchliche Institutionen sehr aktiv; was das Geld betrifft, so der Leiter der Caritas Europa H. Ik-king, sei hi'er der Wilde Westen: „Die Ellbogen sind die wichtigsten Körperteile; Geld wird unters Volk geworfen, niemand weiß genau, wer Geld kriegt und warum”, desillusioniert Ikking.

Zwei nationale kirchliche EU-Vertretungen gibt es bislang: Die Evangelische Kirche in Deutschland unterhält ein Büro in Brüssel, seit kurzem sind auch die katholischen Österreicher gut bedient; der Wiener Theologe Michael Kuhn betreibt seit März das im Haus der deutschen Gemeinde untergebrachte Kontaktbüro der Österreichischen Bischofskonferenz in Brüssel. Die Anlaufstelle für das kirchliche Österreich steht auch den anderen Konfessionen zur Verfügung.

Trotz der institutionellen Präsenz von Kirche in Brüssel, scheint die tatsächliche Perspektive von Beligion - ob institutionell oder nicht - wenig greifbar. Auch Vernetzung von politischer und religiöser Vision bleibt grosso modo undiskutiert. Braucht Europa eigentlich eine Seele?'Die österreichische Journalistengruppe in Brüssel fand darauf keine wirkliche Antwort.

Ein Spaziergang bei den „europäischen” Gebäuden im herbstverhangenen Brüssel löste bloß Assoziationen zu Symbolischem aus: Das Berlaymont, jahrzehntelang als Gebäude Inbegriff der Eurokratie, präsentiert sich zur Zeit mit Stoffbahnen zugehängt - wegen Asbestgefahr geschlossen. Das Europäische Parlament, mitten auf einem abgerissenen Stadtviertel errichtet, erscheint als gigantischer Bau eingezwängt in bestehende Vorstädte. Kirche fällt ringsum keine ins Auge - außer dem ehemaligen Kloster „Van Maerlant”, von dem zur Zeit nur die Fassade steht, weil auch dieses Gebäude renoviert wird.

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