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Bruder- oder Judaskuß?

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Rom, im September 1956

Schon vor dem auf die ersten Septembertage festgesetzten Ende der politischen Ferien hat ein bedeutendes Ereignis die Hochsommerruhe der italienischen Hauptstadt empfindlich gestört: das auf Betreiben Nennis erfolgte Zusammentreffen der seit neun Jahren getrennten und verfeindeten einstigen Parteigenossen Nenni und Saragat in den hochragenden Bergen des Savoyer Landes. Pietro Nenni, der Führer der 75 sozialistischen Deputierten, der schon in der freiwilligen Verbannung in Paris einen Aktionspakt auf Gedeih und Verderb mit den Kommunisten geschlossen hatte — und Giuseppe Saragat, der eben deshalb vor neun Jahren mit dem rechten Flügel aus der Nenni-Partei ausgeschieden war und die gemäßigte Sozialdemokratische Partei gegründet hatte.

Bis 1954 fristete diese Partei mit ihren 19 Abgeordneten ein kümmerliches Dasein. Erst ihre aktive Beteiligung an den Regierungen Scelba und Segni gaben ihr die große Chance sozialpolitischer Verwirklichungen, um die sich ihre den Ressorts der Oeffentlichen Arbeiten, der Arbeit und zeitweise der Finanzen vorstehenden Minister heiß und mit Erfolg mühten. Seitdem datiert ihr Aufschwung bei den Arbeitermassen, wie er deutlich anläßlich der Kommunal- und

Provinzialwahlen vom letzten Mai zum . Ausdruck kam. Dieser 27. Mai, der den Kommunisten, im Zuge auch der Entstalinisierung, große Verluste beibrachte, während er die Anhänger der genannten beiden sozialistischen Gruppen um so mehr anwachsen ließ, scheint sich tatsächlich als der Schicksalstag der Linksparteien zu erweisen, indem ihre sich neu bildenden Fronten das gesamte Parteiengefüge in Bewegung zu bringen drohen.

Die Tragweite der Zusammenkunft von Nenni und Saragat in Savoyen kann nicht gut unterschätzt werden. Zwei ehemalige langjährige Parteifreunde, der eine heute 65, der andere 58 Jahre alt, die sich ein Jahrzehnt hindurch — bis ganz zuletzt — harte, ja grobe Wahrheiten gesagt hatten, fallen sich plötzlich gerührt in die Arme und verpflichten sich mit ihrem Manneswort vor aller Oeffentlichkeit für künftiges Zusammengehen auf gemeinsamer demokratischer Basis, so bindend, daß es kaum mehr ein Zurück zu geben scheint. „Auf demokratischer Basis“ — dies bedeutet, daß sich Nenni endlich vom Pariser Aktionspakt mit den Kommunisten, den er heute ein „historisches Dokument“ nennt, lösen will und sich zum Zusammenschluß mit der gemäßigten Saragat-Partei bereit erklärt.

Eine große sozialistische, besser sozialdemokratische Partei nach altem „revisionistischem“ Muster soll bald nach dieser Wiedervereinigung ins Leben treten, welcher der Jüngere, Saragat, die Lebensgrundlagen und die Kampfmethoden vorzuschreiben scheint: eindeutiges Bekenntnis zur verfassungsmäßigen demokratischen Regierungsform, was — und dies ist das Wichtigste — für die Nenni-Sozialisten die endgültige Absage an die Allianz mit den Kommunisten bedeutet; Verfolgung der von den Sozialdemokraten stets bejahten Außenpolitik des, Atlantikpaktes, dessen Endzweck, nämlich die Sicherung des Weltfriedens, womöglich noch stärker betont werden soll als bislang; endlich noch größere Ausrichtung der Wirtschaftspolitik nach sozialen Gesichtspunkten, wobei natürlich die Rede ist von der endlichen Beteiligung der Arbeitermassen an der Mitgestaltung ihrer Geschicke.

Die Kommentare zumal der Linkspresse lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Während die „Unitä“ Togliattis sich noch zurückhält, ist es mit dem „Avanti!“ Nennis anders. Seine Partei, der mit der Aufkündigung des Bündnisses mit den Kommunisten und mit der Anerkennung der von ihr früher stets hart bekämpften offiziellen Außenpolitik die größten Opfer zugemutet werden, stellt schon jetzt ihre unabdingbaren Forderungen innerpolitischer Natur, die zumal in der künftigen Gruppierung der regierungsfähigen Parteien zum Ausdruck kommen soll. Wie die Sozialisten Nennis, schon wegen ihrer wirt-schafts- und sozialpolitischen Einstellung, ein Zusammenregieren mit den Liberalen ablehnen, so weisen diese ebenso eine Verständigung mit den Nenni-Sozialisten zurück.

Die heute regierende sogenannte Mitte, die ihrer knappen Mehrheit in beiden Häusern des Parlaments die demokratische Kontinuität sichert, ist also gefährdet. Dies auch aus anderem Grund. Denn nachdem Saragat, der sozialdemokratische Parteiführer, im Begriff ist, sein Amt als stellvertretender Ministerpräsident niederzulegen, dürften über kurz oder lang die übrigen drei sozialdemokratischen Minister aus der Regierung ausscheiden. Eine Regierungskrise im Gefolge des sozialistischen Einigungswerkes dürfte also unvermeidlich sein. Noch mehr: wenn es Nenni mit seinem Bruderkuß wirklich ernst ist, wird die im Zuge dieser Einigung sich ergebende Rückführung der den verfassungsmäßigen Institutionen entfremdeten zahlreichen Anhänger Nennis (Abgeordnete, Parteimitglieder, Wähler) auf den Boden der parlamentarischen Demokratie deren tragende politische Kräfte erheblith verändern.

Wie ernst es um die Einigungsabsichten der beiden sozialistischen Gruppen bestellt ist, geht auch daraus hervor, daß sich die führenden Männer der Sozialistischen Internationale, so besonders Morgan Philips, stark darum bemühen; deren Sekretär, der französische Senator Pierre Commin, weilt deshalb gegenwärtig in Rom.

Die nach vielen, die Oeffentlichkeit irreführenden Winkelzügen, nach langen Verhandlungen hinter und vor den Kulissen endlich in der Ferienstimmung des Sommers außerhalb der Landesgrenzen stattgefundene Begegnung der beiden Politiker der Linken wird also für die künftige innerpolitische Lage weittragende Folgen haben. Neben vielem anderen kündigen sich diese heute darin an, daß wieder einmal von der Vorverlegung der 1958 fälligen Neuwahlen gesprochen wird.

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