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Bürger setzen auf alte Reflexe

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Es soll bald wieder aufwärts gehen in Ungarn. Das Sparpaket von Finanzminister Lajos Bokros soll's möglich machen. Der Alltagsbürger kann darüber nur müde lächeln.

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Es soll bald wieder aufwärts gehen in Ungarn. Das Sparpaket von Finanzminister Lajos Bokros soll's möglich machen. Der Alltagsbürger kann darüber nur müde lächeln.

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Vom Stabilisierungsprogramm der aus Sozialisten und Liberalen bestehenden Koalition kann der ungarische Alltagsbürger vorläufig nur noch die erstaunlich rasch verfügte Schließung von Schulen und Krankenhäusern registrieren. Dabei soll das Bokros-Konzept tatsächlich wertvolle Anhaltspunkte zur Fort-esetzung der Privatisierung und des Modernisierungsprozesses enthalten. Doch niemand in der Regierung ist in der Lage, sie aufzuzeigen.

Fest steht, daß der Internationale Währungsfonds nicht mehr geneigt ist, sich von der großspurigen Erörterung wohlklingender Pläne hinhalten zu lassen. Ungarn habe das\im September 1993 unterzeichnete Abkommen nicht eingehalten, über die von Budapest angestrebten Bereitschaftskredite könne nur vor dem Hintergrund konkreter Ergebnisse gesprochen werden, heißt es in Washington.

In der Tat: Die Westverschuldung des Landes beträgt gegenwärtig 28,8 Milliarden US-Dollar. Zur Tilgung dieses Beitrages werden seit Jahren 1,5 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt. Zusammen mit dem dazukommenden Handelsdefizit strömen jährlich mehr als vier Milliarden Dollar aus dem Land. All dies übertrifft die Einnahmen fast ums Zweifache. Dem Argument westlicher Wirtschaftsexperten gegenüber, die mit dem Hinweis eine Umschuldung empfehlen, daß Schulden durch ständige Neuverschuldungen auf Dauer nicht wirksam getilgt werden können, zeigt sich die Regierung unempfindlich.

Die Regierung hat bei der Bevölkerung ihren Kredit fast völlig verloren. In dem von den auf Koalitionskurs liegenden Medien lancierten Denken äußert sich Tag für Tag ein Zynismus ohnegleichen. So kann ein angesehener Industrieller, gegen den das Finanzamt wegen mehrfacher Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe ermittelt, in einem Rundfunkgespräch den Finanzbehörden empört die Frage stellen, wie sie wohl dazu kämen, die geltenden Vorschriften anders zu interpretieren als er. Anschließend wird er vom Programmleiter auch noch zu den treffenden Formulierungen beglückwünscht. Finanzminister Bokros rechtfertigt die von der Begierung der seinerzeit von ihm geführten Budapest-Bank illegal gewährten Geheimkredite in Höhe von 18 Milliarden Foriunt damit, daß mit dem Betrag schließlich hohe Umsätze erzielt worden seien.

Der Alltagsbürger spricht von einem „wilden Kapitalismus” und sieht zu, daß er auf seine Weise durchkommt. Zum Glück funktionieren noch die während des Kommunismus entwickelten alten Reflexe, wenn es darum geht, gleichzeitig sogar mehreren Nebenbeschäftigungen in Schwarzarbeit nachzugehen und der politischen Wirklichkeit den Rücken zu kehren. Die Beschwörung einer baldigen EU-Mitgliedschaft durch Politiker weckt genausowenig Interesse wie die Selbstverherrlichungskampagnen parlamentarischer Parteien, die keine Gelegenheit auslassen, um die Stabilität der Rechtsstaatlichkeit als eigenen Verdienst zu loben, als könnten tatsächlich nur Rechts- oder Linksextremismen eine Demokratie gefährden.

Die einstige christliche-nationale Koalition hat sich von ihrer Wahlniederlage vom Mai 1994 noch immer nicht erholt. Das Forum Ungarischer Demokraten, einst stärkster politischer Faktor im Land, existiert nur noch dem Namen nach. Seine zunehmend in die Anonymität versinkenden Führungskräfte sind müde geworden, den Zerfall der Partei aufzuhalten.

Die Christlich-Demokratische Volkspartei kann unter der Führung ihres aus der Unscheinbarkeit kommenden früheren Redakteurs der stets nach Hörigkeit lechzenden katholischen Wochenzeitung „Uj em-ber” bislang nur mit einer Leistung aufwarten: sie hat ihre Rolle als Unterläufer des Demokratenforums gekündigt.

Verwirrt beobachtet die noch nicht davongelaufene Anhängerschaft des einst so linksliberalen Verbandes Junger Demokraten (FIDESZ) den Versuch der Parteispitze, abwechslungshalber einen rechtsliberalen Kurs auszuarbeiten. Ein Zusatzname ist dazu jedenfalls schon gefunden worden: Bürgerliche Partei.

Zumindest konsequent im Umgang mit Pauken und Trompeten verteidigt die Partei der Kleinen Landwirte die nationalen Werte vor einem gesamtungarischen Untergang, dessen Herannahen gerade die Betroffenen wenig zu beeindrucken scheint.

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