7133672-1997_38_05.jpg
Digital In Arbeit

Das (allzu-) „nahe Ausland”

19451960198020002020

Die Kremlführung und die nationalistisch-kommunistische Opposition kooperieren bei der zunehmenden Gängelung der Ex-Sowjetrepubliken.

19451960198020002020

Die Kremlführung und die nationalistisch-kommunistische Opposition kooperieren bei der zunehmenden Gängelung der Ex-Sowjetrepubliken.

Werbung
Werbung
Werbung

Die UdSSR wird heute in Rußland überwiegend keineswegs mit Diktatur, Unterdrückung und Konfrontation mit dem Ausland assoziiert, sondern mit relativer sozialer Sicherheit, Ordnung und Supermachtstatus. Sämtliche Meinungsumfragen zeigen, daß ihr Zerfall Ende 1991 von einer großen Mehrheit entschieden abgelehnt wird.

Die Kremlführung versucht dieser Stimmung vor allem seit 1993 dadurch Rechnung zu tragen, daß sie eine größtmögliche „Integration” der Mitglieder der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) auf allen Gebieten - Politik, Wirtschaft, Militär, aber auch Medien, Wissenschaft, Bildung und Kultur - forciert. In Bußland war allerdings von Anfang an ganz offiziell zwischen dem sogenannten „nahen Ausland” (oder auch „postsowjetischem Baum”), das heißt den GUS-Staaten, und dem „fernen Ausland”, also dem „Best der Welt”, unterschieden worden, was bereits andeutet, daß man den GUS-Staaten einen niedrigeren „Grad an Unabhängigkeit” als allen anderen Ländern zubilligt. In Präsident Boris Jelzins grundlegendem Erlaß „Der strategische Kurs Bußlands gegenüber den Teilnehmerstaaten der GUS” (14. 9. 1995) wird offen ausgesprochen, „daß diese Begion (das heißt die ehemalige UdSSR; Anm.) vor allem Interes-senszone Bußlands ist”. Im Klartext warnt Bußland vor einer - allerdings ohnehin nicht zu Diskussion stehenden Aufnahme der Ukraine und auch der drei baltischen Staaten in die NATO.

„Freiwillige” Wiederherstellung

Für russische Kommunisten und Nationalisten gibt es keine Diskussion über die „Notwendigkeit” einer Wiederherstellung der UdSSB; „Minimalprogramm” ist eine „Union der slawischen Staaten” Bußland, Ukraine und Belarus (Weißrußland) plus Kasachstan, da dort (vor allem im Norden) viele Bussen leben. Auftakt dieses Prozesses soll der Zusammenschluß mit dem westlichen Nachbarn Belarus sein. Dies findet volle Unterstützung des belorussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko: Er rechnet sich nämlich Chancen aus, die nächsten russischen Präsidentenwahlen zu gewinnen und in den Kreml einzuziehen.

Im Programm der Kommunistischen Partei der Rußländischen Föderation (KPRF) ist die Forderung nach „etappenweiser Wiederherstellung eines einheitlichen Unionsstaates auf freiwilliger Grundlage” enthalten. Damit zog KPRF-Chef Gennadij Sjuganow auch in den letzten Präsidentschaftswahlkampf. In dessen Vorfeld beschloß die von der KPRF und verbündeten Gruppierungen sowie Wladimir Schirinowskijs „Liberal-demokratischer Partei Rußlands” (LDPR) dominierte Staatsduma (Unterhaus des Parlaments) am 15. 3. 1996 mit großer Mehrheit ein Dokument, demzufolge die Ergebnisse des Referendums vom 17. 3. 1991 über den Weiterbestand der UdSSR in Kraft bleiben sollten und die Abkommen über die Schaffung der GUS vom Dezember 1991 „in jenem Teil keine juristische Kraft hatten und haben, der sich auf die Auflösung der UdSSR bezieht”.

Die offiziellen Reaktionen aus den GUS-Staaten wie aus dem Westen fielen zwar überwiegend ablehnend, dabei aber keineswegs scharf aus, und nach wenigen ”lagen war die Angelegenheit überhaupt vergessen. Es fällt demgegenüber nicht schwer, sich die weltweite und anhaltende Empörung vorzustellen, die zum Beispiel eine Entscheidung des britischen Unterhauses über eine „Wiederherstellung” des British Empire ausgelöst hätte.

Die Bemühungen der nationalistisch-kommunistischen Opposition zur Wiederherstellung der UdSSR und die Anstrengungen der Kremlführung zur größtmöglichen „Integration” in die GUS bestehen natürlich nicht unabhängig voneinander. So enthält die gültige, seinerzeit von Jelzin initiierte russische Verfassung von 1993 eine „juristische Grundlage” für eine mögliche „Wiedervereinigung” Rußlands mit früheren Sowjetrepubliken (Art. 79), und der als sehr

„gemäßigt” geltende Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin meinte im Mai 1994 auf einem Treffen mit Kulturschaffenden: „Mir tut die UdSSR aufrichtig leid, und ich bin überzeugt, daß wir die Union auf einer neuen Grundlage erschaffen werden. Dafür ist es wert zu leben.”

Die „patriotische Mehrheit” im Parlament unterstützt zuverlässig alle Initiativen Jelzins und der Regierung zur „Integration” in der GUS. Der Präsident zeigte sich dafür unter anderem dadurch erkenntlich, daß er nach seinem Sieg bei den Präsidentenwahlen (Juni 1996) einen seiner schärfsten Kritiker, nämlich den den Kommunisten nahestehenden Aman Tulejew, zum Minister für Angelegenheiten der GUS ernannte.

Moskau stehen von der russischen Wirtschaftszeitschrift „Delovye lju-di” (Geschäftsleute) aufgezählte „Hebel” zur Verfügung, mit denen es die GUS-Staaten (wie auch des Ralti-kum) bereits beeinflußt beziehungsweise im Bedarfsfall relativ leicht beeinflussen könnte: Verbale und praktische „Erinnerungen” an ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von Bußland (vor allem bei Energieträgern und Transportwegen), das russische Kapital auf den GUS-Märkten, die

Massenmedien (Einflußnahme auf die Zusammensetzung der herrschenden Eliten bei Wahlen), Schaffung eines schlechten Images der GUS-Staaten im „fernen Ausland”, Unterstützung der russischen Minderheiten und separatistischer Bewegungen und so weiter.

In Moldowa, Georgien und Aserbaidschan kontrollieren die Zentralregierungen jeweils nur einen Teil ihres Staatsgebiets. Prorussische separatistische beziehungsweise irredenti-stische Kräfte halten nach schweren bewaffneten Auseinandersetzungen einen für sie günstigen Status quo, was Moskau breite Möglichkeiten eröffnet, auf diese Länder einzuwirken. Es hat es immer wieder verstanden, aus der Rolle eines (wenngleich nicht neutralen) „Schiedsrichters” zwischen den Konfliktparteieh maximalen Nutzen zu ziehen. So sahen sich die drei genannten Länder 1993/94 veranlaßt, der GUS beizutreten. In Moldowa (Dnjestr-Gebiet) und Georgien (Abchasien, Südossetien) stehen auch russische „Friedenstruppen”, deren Stationierung das mit dem Problem der armenischen Enklave Berg-Kara-bach konfrontierte Aserbaidschan bisher abgelehnt hat.

Maßgebliche russische Politiker (darunter der einflußreiche Bürgermeister von Moskau, Jurij Luschkow) versuchen sich auch immer wieder mit - durch bilaterale und internationale Verträge verbotenen - territorialen Ansprüchen gegen die Ukraine zu profilieren: sie fordern eine Bückgabe vor allem der Hafenstadt Sewastopol, mitunter aber der ganzen Halbinsel Krim.

„Russischsprachige”

Ein weiterer „Hebel” Moskaus sind die sogenannten „Russischsprachigen” Dieser unscharfe Begriff ist in Politik und Medien Bußlands ständig präsent. Dort ist a priori klar, daß die Bechte der Millionen „Bussisch-sprachigen” in den früheren Sowjetrepubliken „verletzt” werden, zumindest aber immer „gefährdet” sind. Mit solchen und noch härteren Vorwürfen - „Apartheid”, „drohender Genozid” - ist man in Bußland (zudem meist ohne stichhaltige Belege) sehr rasch zur Hand. Immer wieder verlangen Politiker und Medien, gegen jene Staaten, die die Bechte der „Russischsprachigen” angeblich mißachten, Sanktionen (bis hin zu militärischen Strafaktionen) zu ergreifen.

Moskau benötigt an sich keine Wiederherstellung der UdSSR, um die wichtigsten Gebiete des „nahen Auslandes” politisch, wirtschaftlich und militärisch (mit etwa 30 Stützpunkten und sonstigen Armee-Einrichtungen) zumindest indirekt zu kontrollieren oder wenigstens zu verhindern, daß dort ihm unwillkommene Entscheidungen getroffen werden. Mit zunehmender Enge der „Integration ” in der GUS nimmt jedenfalls die Kontrolle Rußlands über die früheren Sowjetrepubliken zu - und deren Bewegungsfreiheit entsprechend ab. Moskau nützt sowjetnostalgische Tendenzen auch in mehreren GUS-Staaten aus, deren Hauptursache die anhaltenden wirtschaftlichen

Schwierigkeiten sind. Diese wiederum dürften ohne Hilfe von außen -das heißt vom Westen und internationalen Finanzorganisationen kaum zu überwinden sein.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung