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Das angelsächsische Modell wird attraktiv

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Anfangs der sechziger Jahre wurde die „Koalition“ bereits da und dort als äußerst unproduktiv, ja als staatsgefährlich angesehen. Um diese Zeit gab der 1960 zum Generalsekretär der ÖVP gewählte jetzige Vizekanzler Dr. Hermann With'alm dam Ruf nach einer vollfunktionie-renden parlamentarischen Opposition folgendermaßen wörtlich Ausdruck:

Wenn uns in den sechziger Jahren die Gefahr drohen sollte, daß dieser Staat in den Grundfesten seines Rechtes oder seiner Währung erschüttert wird, dann könnten wir nicht mit unibeteiligter Miene auf der Ragierungsbank sitzen, dann müßten wir von den Oppositionsibänken Alarm schlagen.

Während anan also in Österreich das Heil und die Heilung der parlamentarischen Demokratie von der Ausgliederung einer vollfunktionierenden Opposition erwartete, wies Niels Lhyne bereits auf die in mehr fortschrittlichen Industrieländern mit eben dieser Opposition gewonnenen Erfahrungen hin:

In den Industrieländern bedarf es mehr und mehr entschiedener Anstrengungen, um überhaupt noch „konforme Einheiten“ zu produzieren und das für den automatisierten Lauf der öffentlichen Angelegenheiten und des Gemeinwohls erforderliche „zureichend übereinstimmende Verhalten der Bürger mit friedlichen Mitteln sicherzustellen“.

Als Nebeneffekt dieses entschiedenen Bemühens werde es immer schwieriger, irgendwelche wirkliche Unterschiede zwischen den Männern der Opposition und der Majorität, gegen die sie opponieren, zu finden. Alles vereinige sich zu einem einzigen großen, feindlichen Haufen von Langweile.

Blenden wir an dieser Stelle ein: Gegen eben diese Gleichförmigkeit, mit der eine wachsende Entpersönlichung aller sozialen Beziehungen verbunden ist, erhob sich der Aufstand der Gebildeten im Iridustrie-system.

In Österreich hinkte dem gegenüber der Gang der Ereignisse noch eine Zeitlang nach: Solange die jährliche Zuwachsrate dem einzelnen Staatsbürger die Hoffnung gestattete, daß im nächstfolgenden Budgetjahr seine Einkommens- und Lebensverhältnisse günstiger sein würden als im abgelaufenen und solange innerhalb der „Koalition“'seine letzten Endes 'allseits befriedigende Verteilung der Früchte dieses Zuwachses möglich war, wäre es auch dem gewandtesten Agitator nicht leicht gewesen, die leidigen Streitereien der Koalitionspartner zu dramatisieren und auf die Spitze zu treiben. Hierin änderte sich einiges, als gegen Ende der Ära Raab/Karnitz sichtbar wurde, daß die beständige Aufwärtsentwicklung der Verhältnisse in der Wohlstandsgesellschaft des Wohlfahrtsstaates kein Ewigkeitswert ist. Die Ende der fünfziger Jahre mit einigem Geschick (vor allem aber dank der besonderen Umstände, die im Falle Österreich bestanden) unter relativ geringen Opfern aufgefangene weltweite Wirtschaftsrazassion war das erste Läuten. Jeder Einsichtige mußte fortan gewärtig sein, daß es in den sechziger Jahren mehrere und von stärkeren Auswirkungen begleitete Rezessionswellen in Europa und in der Welt geben werde. Bruno Kreisky fing an, die SPÖ als die bessere Partei für schlechtere Zeiten zu empfehlen; das in den Reihen der politischen Rechten entstehende libi-dinöse Verlangen nach der Alleinverantwortung hat, ihn vor der Probe aufs Exempel bewahrt und ihm alle Atsw.vdje, 'Hand., stielt,,- mit denen andernorts die britischen Konservativen den Premierminister des jetzigen Labourregimes in Großbritannien, Harold Wilson, aus-tarockieren.

Schon in der Ära der „Koalition“ war die Behauptung des Postens des Regierungschefs für die jeweils mandatsstärkste ÖVP (die 1953 und 1959 weniger Wählerstimmen bekam als die SPÖ) so etwas wie eine zitternde Freude. Das schweizerische All- oder Mehrparteiensystem kennt dieses kalkulierte Risiko nicht, das jenes Unsicherheitsmoment entstehen läßt, das nicht nur eine vorausschauende Wirtschafts- und Finanzpolitik belastet, sondern einer kontinuierlichen Staatspolitik im Wege steht. Der Vorschlug des damaligen Vizekanzlers Bruno Pittenmann, den Kampf um die Spitze durch eine eventuelle Übernahme eines modifizierten schweizerischen Systems auf der Ebene der Bundespolitik zu entschärfen (wechselnder Turnus im Vorsitz in der Exekutive), ging im Mahlstrom der' Entwicklung, die bereits auf ganz neuartige Ziele zutrieb, unter. Jetzt gerieten andere Dynamismen ingang: Die jungen österreichischen Intellektuellen brachten Von ihren amerikanischen Universitäten das Dogma von der preservation of the two party System heim und damit die Vorstellung von der einen 'an der Macht befindlichen Partei. Dazu gehört die „Enitideologisierung“ der politischen Parteien im Industriesystem, die Entfernung jener „ideo-logicai dog tags“ (Hundemarken) der bisherigen Gesinnungsgemeinschaften.

In den Reformergruppen der beiden bisherigen Koalitionsparteden tauchte um 1960 ziemlich gleichzeitig das Verlangen auf, das bisherige strapaziöse und systemiwidrige Rücksichtnehmen auf die „anderen“ vom Hals zu bekommen und mit dem Majorzsystem allein an die Spitze zu kommen.

Seitdem die SPÖ am 18. April 1969 die Mitarbeit in einem Koalitionsregime unter einer absoluten ÖVP-Mehrheit abgelehnt hat ist es in Österreich für jede parlamentarische Minorität diskriminierend geworden, freiwillig in einem „durch Koalitionspakt gehemmten Majorzsystem“ mitzumachen. Nach und nach halben Politologen und Agitatoren das Majorzsystem mit einer legitimierenden Staatsidee umgeben: Demnach ist das auf das System der Mehrheitswahl und auf das Majorzsystem abgestellte Einparteiregime so etwas wie „klassische“ und „vollentwickelte“ Demokratie; das Alloder Mehrparteienregime mit seinem System von Ausgleich und Kompromiß, Proporz und Verzicht auf eine nennenswerte parlamentarische Opposition ein „unterentwickeltes System“, eine „Demokratie für Anfänger“. Wie in vieler Hineicht gibt es auch hierin ein österreichisches Paradoxon:

Obwohl alle Bundesländer, außer Vorarlberg und im eingeschränkten Maße auch Wien, ein verfassungsmäßig garantiertes System einer Mehrparteienregierung (unter Verzicht auf eine Opposition) praktizieren und nicht daran denken, dieses System gegen das angelsächsische Einparteim'ajorzsystem auszutauschen, gehört es zur politischen Jagdleidenschaft vieler Landespolitiker, die bei sich zu Hause mit Proporz und Koalition gut auskommen, in Wien als Koalitionstöter aufzutreten und längliche Abschußlisten von sogenannten Koalitionspolitikem mit sich zu führen. Und obwohl sie. als klevere Realpolitiker wissen, daß es sich bei dem ganzen um Fragen der politischen Zweckmäßigkeit handeIffc,,gestatten sie es zum Teil politologischen Spekulanten und verbohrten Ideologen, das Problem des Mehrparteieniragimes mit allem Drum und Dran geradezu zu einer Frage der politischen Moral zu machen. Dazu wäre selbst im politologischen und ideologischen Standpunkt einiges zu vermerken: . . . . Auf dem Höhepunkt der parlamentarischen Systems des 19. Jahrhunderts (das bekanntlich in der Ära der Revolution der Bourgeois 1789 bis 1848 entstanden ist) war das im feudalen England um 1700 entwik-kelte Zweiparteiensystem einigermaßen genuin und funktionsfähig, weil Regierung und Opposition etwa mit gleichen Chancen und Risken rechnen konnten.

Hinter den Liberalen und hinter den Konservativen, standen, gleichmäßig verteilt, machtstarke wirtschaftliche, gesellschaftliche und ideologische Faktoren.

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