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Das Einmaleins hinter der simplen Arithmetik

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Spätestens seit dem Streit um die „Sperrminorität" müssen Wirtschaftstreibende zur Kenntnis nehmen: Die EU ist ein Politikum und nicht nur eine Gemeinschaft zur Förderung des Handels.

Der Ausdruck „Sperrminorität" hätte im März 1994 wohl wirklich alle Chancen gehabt, zum „Schlagwort des Monats" gewählt zu werden. Populär ist er trotzdem nicht. Aus gutem Grund: Wer findet schon Sinn darin, daß die allseits gewünschte Erweiterung der Europäischen Union um Österreich und die drei nordischen Kandidaten Finnland, Norwegen und Schweden ausgerechnet durch den Streit um die „Sperrminorität" von 23 oder 27 Stimmen aufs Spiel gesetzt wird?

Ein kleinliches Feilschen? Frankreichs Außermiinister Alain Juppe stand nicht allein da, als er erklärte: „Auf dem Spiel steht die Philosophie der Gemeinschaft". Stimmt. Allerdings ist dieser Ausspruch erst verständlich, wenn man die Entwicklung dieser „Philosophie" nachvollzieht:

EINE ALTE SPIELREGEL

Von Anfang an gab es in der EG die Spielregel, daß nur über ganz kritische Angelegenheiten einstimmig entschieden werden muß, so daß jeder Staat ein Vetorecht hat.

Für viele andere Entscheidungen jilt eine andere Regel: Wenn die (.ommission dafür geradesteht, daß eine Vorlage allen zugemutet werden kann, genügt die Annahme einer „qualifizierten Mehrheit" im Ministerrat. Dort bringen die Mitgliedstaaten je nach Größe zwischen zwei und zehn Stimmen auf die Waagschale (siehe Tabelle). Die „qualifizierte Mehrheit" wurde schon zu Beginn der EWG, als sie nur sechs Staaten umfaßte, so definiert, daß sie etwas über der Zweidrittelmehrheit lag.

Im Laufe der Jahrzehnte wurde die EWG mehrmals erweitert. Zuerst um Großbritannien, Dänemark und Irland (1973), dann um Griechenland (1981), Spanien und Portugal (1986). Jedesmal wurde die Stimmenverteilung neu geregelt. Aber stets hielt man an der ursprünglichen Proportion fest. In der Neunergemeinschaft (1973) betrug die „qualifizierte Mehrheit" 41 von 58 Stimmen, in der jetzigen Zwölfergemeinschaft liegt sie bei 54 von 76 Stimmen. Das heißt: 22 Nein-Stimmen können einen Mehrheitsbeschluß noch nicht blockieren.

Wenn nun die vier EFTA-Staaten beitreten, verfügen alle 16 Mitgliedstaaten über 90 Stimmen. Es war logisch, die bisherige Proportion beizubehalten, also einen qualifizierten Mehrheitsbeschluß von 64 Ja-Stimmen vorzusehen. Dann würden 26 Stimmen für ein kollektives Veto nicht ausreichen. Es wären dazu 27 Stimmen nötig. Eben dies ist mit der „Sperrminorität" gemeint.

Wenn sich nun Briten und Spanier schon so lange querlegen, opponieren sie gegen eine Grundrege des Gemeinschaftssystems. Sie wollen die „qualifizierte Mehrheit" stärker an die Einstimmigkeit annähern. Denn das Beharren auf der „Sperrminorität" von 23 Stimmen bedeutet natürlich, daß Mehrheitsentscheidungen erschwert werden.

Daher geht es in diesem Streit nicht nur um ein simples arithmetisches Problem: Denn je mehr Mitghedstaaten am Tisch sitzen, desto schwieriger ist es von vornherein, unterschiedliche Interessen unter einen Hut zu bringen. Die Gefahr einer Lähmung wächst, wenn das „Veto" erleichtert wird.

Das hat die große Mehrheit der Mitghedstaaten auch klar erkarmt. Auch im Europäischen Parlament will man keine Abstriche von der bisherigen Proportion akzeptieren. Denn das wäre eine Schwächimg des Entscheidungssystems im ganzen, heißt es.

Daß London und Madrid sich so widerspenstig zeigen, hat unterschiedliche Gründe:

Der britische Premierminister

John Major hat zwar vom klaren Anti-Integrationskurs seiner Vorgängerin Margret Thatcher schon Abstriche gemacht. Aber er kämpft um sein politisches Uberleben und kalkuliert damit, daß sich Widerstand gegen die EU-Mehrheit innenpolitisch auszahlt. Kritik aus den eigenen Reihen, er werde Großbritannien innerhalb der EU in die Isolierung treiben, macht ihm anscheinend geringere Sorgen.

Ganz anders ist die Situation bei Spanien. Hinter der harten Haltung Madrids stecken rein materielle Interessen: Spanien gehört zu den wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten, zu den Subventionsempfängem. Die jetzt anstehende Erweiterung um vier „Net-to-Geber" stärkt die Fraktion der wirtschaftlich potenteren Mitglieder. Das macht natürlich den Subventionierten (Griechenland, Irland, Portugal und Spanien) große Sorgen. Spanien ist als der stärkste der vier Partner sozusagen der Fraktionssprecher.

So hat Madrid schon vor längerer Zeit verlangt, daß man bei der Berechnung der Zulassungskriterien für die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) die neuen vier Mitgheder nicht miteinrechnet. Da diese Kriterien nämlich vom Maßstab der drei stabilsten und gesundesten Länder abgeleitet werden, bedeutet dies, daß der Brotkorb in der Folge des Beitritts Österreichs, Norwegens, Schwedens und Finnlands entsprechend höher gehängt wird. Von dieser Forderung ist Spanien inzwischen ohne viel Aufhebens wieder abgegangen.

Aber dafür will man sich die Chancen für die Ausübung des Vetorechtes verbessern. Eben durch die auch von den Briten geforderten Änderungen der Mehrheitsproportion. Man kann sich dann die Zustimmung zu Gemeinschaftsentscheidungen teuer abkaufen lassen. Nicht zuletzt sind ja auch für die Realisierung der Wirtschafts- und Währungsunion einige Entscheidungen nötig, die mit „qualifizierter Mehrheit" gefällt werden. Je leichter diese blockiert werden können, desto besser für Spanien.

Es geht also in dem ganzen Spiel um Macht und Einfluß auf Kosten der Entscheidungskraft der Union. Das wird schon am Sprachgebrauch deutlich: London und Madrid haben es fertiggebracht, daß nicht über die Möglichkeiten der Entschlußfähigkeit gestritten vnid, sondern über die „Sperrminorität", also darüber, wie Entscheidungen blockiert werden können.

Damit ist klar, daß es sich bei dem Streit um das Schlagwort des Monats nicht um eine bloße Prestigesache von Regierungschefs, Außenministem und Diplomaten handelt, sondern darum, ob die Intem-a-tion vneder einmal von „Eurosklerose" befallen werden wird. (Das war schon einmal so. Als sich nämlich die EG unter dem Druck von Frankreichs Charles de Gaulle nicht getraut hat, die Bestimmungen über die Mehrheitsrege anzuwenden, wie das der EWG-Vertrag vorsah.)

Klar ist somit aber auch, daß die Lösung des Problems der „Sperrminorität" für Österreich nicht nur ein lästiger Disput um die Verzögerung unserer Aufnahme ist. Es geht um die Handlungsfähigkeit der Union, der wir ja schließlich auch angehören wollen.

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