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Das Ende eines Traums

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Das Frankreich des August wurde plötzlich aufgeweckt und sieht die Gespenster atomarer Kriege oder zumindest des Wiederauflebens eines kalten Krieges.

Bis zu den Ereignissen in der Tschechoslowakei kannten die 22 Millionen Staatsbürger, welche die Badestrände der Normandie, der Bretagne und Cöte d'Azur bevölkern, zwei Gesprächsthemen: die Preissteigerungen, die jeden Haushalt bedrücken, und die Formt welche die Studenten : und Gewerkschaften wählen, um die permanente Revolution fortzusetzen.

Dann aber rasselten die russischen Panzer in den Straßen von Prag, Pilsen und Brünn. Beendet war der große Traum der friedlichen Koexistenz und der Meinung, daß der sozialistische Osten liberaler werde und den planetaren Vorstellungen de Gaulles entspräche, der ein Europa vom Atlantik bis zum Ural proklamierte. Nach Auffassung des Staatschefs bestand in der Welt eine Gefahr, eben das Übergewicht der USA. Einem inneren Gesetz folgend sei die erste Macht der Erde gezwungen, ähnlich dem römischen Imperium, Randzonen an sich zu ziehen und dem eigenen Herrschaftsbereich einzuverleiben. Diese „amerikanische Herausforderung“ — Wir verwenden den Buchtitel des bekannten Publizisten Servan Schreiber, der innerhalb weniger Monate eine Auflage von 500.000 verzeichnete — ziele darauf hin, die Industrie und Wirtschaft Westeuropas im amerikanischen Sinn zu integrieren. Damit würde Europa zu einem Vasallen der USA herabsinken. Die Sowjetunion dagegen sei nach dieser Auffassung eine Nation wie die französische oder die deutsche und anerkenne als Grundlage der eigenen Außenpolitik die unbedingten Souveränitätsrechte seiner Nachbarn und selbst der kapitalistischen Staaten. Europa müsse sich daher einschließlich der Sowjetunion in einem Bündnis organisieren, in dem Frankreich westlich und die Sowjetunion östlich die Grundpfeiler bilden. Zwei neutralisierte deutsche Staaten gestalten nach diesen Vorstellungen die Mitte des Kontinents, sorgsam überwacht von den beiden Führungsmächten, damit es diesen bösen Deutschen nicht einfiele, durch eine vorzeitige Atombewaffnung dieses kunstvolle oder besser gesagt künstliche Gleichgewicht zu stören. Ein wahrlich großes, ein historisches Konzept!

Und nun?

Das erste Opfer des russischen Vorgehens in der Tschechoslowakei ist daher General de Gaulle, und noch niemals waren seine Äußerungen unvollständiger, seine Linie unklarer. Trotzdem wird in Paris gehofft, daß ein hinkendes Abkommen zwischen den liberalen Tschechen

und den harten Männern des russischen Politbüros die Niederlage einer Politik verhindert, die mit so viel Energie und Geschick seit Jahren betrieben wurde.

Die Vorgänge in Mitteleuropa berührten eine andere Kraft der französischen Innenpolitik. Es ist dies die Kommunistische Partei Frankreichs, die seit drei Jahren verzweifelt versucht, ein befriedigendes und beruhigendes Image zu schaffen. Die Wähler des Juni 1968 verurteilten -die Kommunisten :für eine vorübergehende Anarchie. Trotz der zeitlichen Nähe der Ereignisse müssen wir feststellen, daß die KP Frankreichs die Krise des Frühlings in keiner Weise hervorgerufen hatte. Im Gegenteil, sie tat wirklich alles,

um die Trotzkisten, Maoisten und sonstigen Revoluzzer zu verteufeln. Nicht einmal das gaullistische Regime hat mit solcher Schärfe die Jungrevolutionäre angegriffen wie die Kommunisten. Die anarchistischen Studenten wiederum beschimpften die KP als bürokratisch und stalinistisch. Ihre Aktionen waren ebenso gegen die zahlenmäßig zweitstärkste Partei des Landes gerichtet, wie sie die Autorität des Staatschefs bezweifelten. Die Kommunistische Partei mit ihren 4,500.000 Wählern und 300.000 eingeschriebenen Mitgliedern wollte an der politischen Verantwortung der Nation teilnehmen, aber die Zeit ist vorbei, wo sie die Diktatur des Proletariats proklamierte.

Das folgsame Kind Moskaus

Die französische Kommunistische Partei war immer absolut Moskau hörig und billigte jedes Vorgehen und alle Maßnahmen, die im Mekka des Weltkommunismus entschieden wurden. Ein Vertrag zwischen dem faschistischen Dritten Reich und der Sowjetunion: Selbstverständlich, es ist gut, mögen selbst die nationalen Interessen Frankreichs darunter leiden. Als die deutschen Truppen 1940 Paris besetzten, pilgerten die kommunistischen Funktionäre zum deutschen Militärkommandanten und erwarteten, dieser werde das sofortige Wiedererscheinen des Zentralorgans der Partei „L'Humanitė“ fördern und gestatten. Der Aufstand in Budapest, die Revolte der Berliner Arbeiter: Moskau hat immer recht, kann sich nie irren, es handelte sich um die Unterdrückung subversiver, konterrevolutionärer und kapitalistischer Kräfte.

Zum erstenmal aber seit der Gründung der Partei im Jahre 1920 verurteilten jetzt die französischen Kommunisten das Vorgehen ihrer russischen Gesinnungsbrüder. Kurz darauf bekamen sie freilich Angst. Die Partei war ein folgsames Kind, das seinem tyrannischen Vater die Treue aufsagte und die bisherige Disziplin verneinte, die ihm zur eigentlichen Natur geworden war.

Konsternierung auf der Linken

Die nichtkommunistische Linke Frankreichs, die in der Tschechoslowakei Fleisch vom eigenen Fleisch, Blut vom eigenen Blut sah, ist zutiefst konsterniert; die französische Linke, bis zum Regierungsantritt de Gaulles freimaurerisch orientiert, antiklerikal eingestellt, hatte das katholische und übernationale Imperium der Habsburger stets mit großem Mißtrauen betrachtet. Dieser „Völkerkerker des Obskurantismus“ sei mit Recht von der Geschichte 1918 verurteilt worden. Bis weit in

christliche Kreise hinein wurde die Tschechoslowakei als ein Werk der französischen Staatskunst gefeiert, das den nationalen Belangen diene. Auch am heutigen Tag wird der Vertrag von München mit Hitler als ein Verrat der heiligsten Interessen angesehen. Die nichtkommunistische Linke glaubte an die friedliche Entwicklung des östlichen Kommunismus, an die Möglichkeit des Dialoges und war überzeugt, daß die Sowjetunion jedes Experiment dulde, das die Freiheit mit dem Sozialismus vereine.

Damit steht Frankreich vor einem Trümmerhaufen der Illusionen. Die harten Tatsachen nehmen wieder ihren Platz ein, die Spaltung von Jalta ist keineswegs überwunden, Europa muß sich einigen. Die Gefahr aus dem Osten besteht, die neostalinistischen Kräfte in der Sowjetunion triumphieren. So lauten zumindest die Analysen der französischen Innenpolitik, von extrem rechts bis zur demokratischen und sozialistischen Föderation. Alle seit Jahren gängigen innen- und außenpolitischen Voraussetzungen sind daher neu zu überdenken.

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