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Das Ende und der Anfang

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Was in anderen Demokratien eine Selbstverständlichkeit ist, das bedeutet in Österreich das Ende einer Ära. Der Tod der Koalition ist eben mehr als nur ein Auseinanderbrechen irgendeiner Regierungskoalition, er ist der Abschied von einem System.

Die mehr als zwei Jahrzehnte regierende Koalition der beiden österreichischen Großparteien, bis vor kurzem für viele das demo krątische Regierungssystem schlechthin, der Garant für eine ruhige Aufwärtsentwicklung Österreichs, gehört der Vergangenheit an. Die wichtigste Ursache dafür ist wohl der Gegensatz einerseits zwischen der politischen und gesellschaftlichen Situation, in der und für die das System der großen Koalition konzipiert worden war, und anderseits der Entwicklung, die Österreich nach 1955 genommen hatte. In einer Zeit des nationalen Notstandes und Wiederbeginns entstanden, als eine noch von den Narben des Bürgerkrieges gezeichnete Generation daranging, unter vierfacher Besetzung und äußerster materieller Not ein neues Österreich aufzubauen, mußte die Koalition gerade dann immer mehr in strukturelle Schwierigkeiten kommen, als man — nicht zuletzt dank der Verdienste eben dieser Koalition — 1955 endlich zur „Normalität“ gelangt war.

Ein System, konstruiert, um die Souveränität zu erringen und die ärgste wirtschaftliche Not zu bannen — Ziele, in denen die Parteien völlig übereinstimmten — konnte sich nach dem Erreichen dieser Ziele nicht mehr im selben Ausmaß bewähren wie vorher. Als der österreichischen Politik nur mehr Probleme gestellt waren, deren Bedeutung und Dringlichkeit — gemessen an den Problemen des ersten Jahrzehntes der Zweiten Republik — nur mehr zweitrangig waren, mußte sich die auch in Österreich vorhandene Vielfalt der politischen Gesinnung, die Vielfalt im Aufstellen von Prioritäten und Lösungsversuchen, verstärkt bemerkbar machen. Immer schwieriger wurde es, die Politik der in Existenzfragen nach wie vor einigen, in reinen Sachfragen aber auseinanderstrebenden Großparteien auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Konnte aber innerhalb der Koalition kein solcher gemeinsamer Nenner gefunden werden, so bedeutete das Inaktivität, Immobilismus. Die Folgen sind bekannt: Wachsende Unzufriedenheit mit der Koalition und die Versuche beider Parteien, den starren Rahmen zu sprengen.

Die absolute Mehrheit, die von der ÖVP am 6. März erobert wurde, machte die Abkehr vom Koalitionssystem möglich. Freilich, viele hätten lieber eine Periode des Überganges erlebt als den doch sehr abrupten Bruch mit dem Gewohnten. Die Aufgabe einer Übergangskoalition wäre es gewesen, die Voraussetzungen für das „klassische“ System der Demokratie, das Wechselspiel von Regierung und Opposition, zu verbessern, und zwar durch ein Außerstreitstellen verschiedener noch kontroverser Materien und durch eine Wahlreform. Allerdings sollte man sich über die Möglichkeiten einer solchen Übergangskoalition keine Illusionen machen; in ihrem auf Grund der klaren Mehrheitsverhältnisse „hegemonialen“ Charakter wäre neuerlicher Konfliktstoff verborgen gewesen.

Fast wäre es aber doch noch zu einer neuen Koalitionsregierung gekommen. Das Ergebnis des Parteitages der SPÖ vom 15. April hatte noch alle Möglichkeiten offengelassen. Es konnte jedoch kaum verborgen bleiben, daß die auf die Opposition drängenden Kräfte innerhalb der SPÖ stärker geworden waren. In der Parteivertretung, der

Photo: Kern vom Parteitag die letzte Entscheidung zugeschoben worden war, blieben dann auch die Befürworter einer Regierungszusammenarbeit mit der ÖVP, und zwar einer Regierungszusammenarbeit auch unter den vorliegenden Bedingungen, in der Minderheit.

Man mag das Auseinanderbrechen der Koalition im gegenwärtigen Zeitpunkt, vor einer Verbesserung der Voraussetzungen einer „Zusammenarbeit jenseits der Koalition“, noch sosehr bedauern: Der Aufbruch zum neuen Ufer der Alleinregierung hat im gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls den Vorteil, daß die Volkspartei imstande ist, ihren Weg allein zu gehen, unbelastet' von Rücksichten auf irgendwelche Außenseiter. Aber die Volkspartei wird dafür auch die alleinige Verantwortung zu tragen haben: Alleinregierung ist auch Alleinverantwortung.

Demokratie heißt in letzter Konsequenz Herrschaft der Mehrheit, bedeutet also Anspruch der Mehrheit auf Regierungsgewalt. Diesen Anspruch macht nun zum erstenmal in der Geschichte der Zweiten Republik eine Partei allein geltend. Von der Idee der parlamentarischen Demokratie ’aus betrachtet ist das ein durchaus legitimes Vorgehen, eine Selbstverständlichkeit, an die wir uns nur noch etwas zu gewöhnen haben. Von der spezifischen österreichischen Situation aus gesehen ist der Vorgang jedoch ein Experiment. Besitzt unsere Demokratie den Reifegrad, um die Gespenster der Vergangenheit -zii bannen? Besitzt die regierende Volkspartei die demokratische Reife, ihre Grenzen zu erkennen und die Notwendigkeit einzusehen, daß auch eine allein regierende Partei auf dem Kompromißweg regieren muß? Besitzt die oppositionelle Sozialistische Partei die demokratische Reife, eine Opposition der Kontrolle und Alternative, nicht aber des Abseitsstehens und Negierens zu sein? Sie alle bedürften eines Vertrauensvorschusses: Die Volkspartei ebenso wie die Sozialistische Partei, wie auch unsere Demokratie.

Die österreichische Demokratie steht vor ihrer Reifeprüfung. Besteht sie diese, ist der letzte Schritt des Überganges zur Normalität mit Erfolg vollzogen.

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