Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Das Heilige Land entdiristlicht?
Es geht das Gerücht, daß die Christen das Heilige Land verlassen. Die griechisch-katholische Hierarchie verkündet es laut. Die Hierarchie römischen Ritus’ wahrt vorsichtiges Stillschweigen. Das Heilige Land besteht heute aus zwei Staaten, Israel und Jordanien; das Phänomen der Auswanderung betrifft alle beide, und diese Bewegung nimmt weiter zu. Warum?
Ewig in der Minderheit
1960 gab es etwa 50.000 Christen in Israel, das heißt nur 2,5 Prozent der Bevölkerung.. Die Moslems umfaßten neun Prozent und die Juden fast 90 Prozent. In Jordanien sind die Christen zahlreicher, bilden jedoch nur eine Minderheit, die niemals 20 Prozent erreicht hat, inmitten der gewaltigen muselmanischen Mehrheit. Alle diese Christen teilen sich in verschiedene Kirchen und Riten auf, deren bedeutendste die römisch- katholische Kirche, in der bei weitem das melchitische (griechisch-katho- liche) Element vorherrscht, und die orthodoxe Kirche, die ärmste, sind. Schon seit Jahrhunderten sind diese Christen in der Minderheit. Ihre Gemeinden haben seit der Eroberung durch den Islam nie mehr recht geblüht. Und doch haben sie sich an den Boden ihrer Ahnen gekrallt, aus Gründen der Religion, der Tradition,
Die Wohlhabendsten
Die Christen hatten seit dem 19. Jahrhundert einen Vorteil. Sie besaßen eine Bildung, die der der Moslems überlegen war, denn sie waren durch die Schule der Klöster und religiösen Institutionen — katholisch wie protestantisch — gegangen. So waren die Christen bes- set auf die technische Zivilisation vorbereitet, die unerbittlich vordrang. Allmählich bildeten sich christliche Führungsschichten, vor allem zwischen den beiden Weltkriegen durch das britische Mandat in Palästina, unter dem die Christen bei der Vergebung örtlicher Ämter begünstigt wurden.
Schon vorher hatten sie die Brücke zwischen der modernen arabischen Kultur und dem Westen gebildet; beispielsweise wurden die meisten arabischen Zeitungen von Christen gegründet. Der jüdisch-arabische Krieg von 1948 aber schuf das Problem der arabischen Flüchtlinge. Diese Wanderbewegung ist eine der wichtigsten Faktoren der Gegenwart im Mittleren Orient geworden und hat auch die örtliche christliche Bevölkerung ergriffen. Sie hat eine soziale Spannung verschärft, die keine Zeit hatte, sich normal zu entwickeln.
Sowohl in Jordanien wie in Israel 1st der Zugang der Minderheiten zu führenden Posten und sogar zum öffentlichen Dienst beschränkt, soweit es sich nicht um Stellungen innerhalb ihrer eigenen zusammengeschmolzenen Gemeinden handelt.
Mehr noch, diese Minderheiten stellen ein Problem dar, und man sieht ihre Auswanderung mit Wohlwollen, soweit man sie nicht geradezu fördert. Der junge einheimische Christ kann in aller Freiheit ein akademisches Studium im Lande absolvieren und, vor allem in Israel, über Stipendien verfügen. Doch nach Ende seines Studiums an der hebräischen Universität wird er unendlich geringere Möglichkeiten zur Ausübung eines freien Berufs haben als der junge Jude. Die gleiche Lage herrscht in Jordanien, wo keine eigentliche Universität existiert, wo sich aber der junge christliche Araber nach seinem Studium im Ausland in der gleichen Situation befindet wie sein Kollege in Israel.
Der christliche Familienvater trägt in Israel die Etikette „Araber“ und kann zum Beispiel in einer Baufirma nicht über den Rang eines Vorarbeiters hinauskommen. Er ist „Christ“ in Jordanien, wo er sich einem ähnlichen Los gegenübersieht. In einer in der Entwicklung befindlichen Gesellschaft lebend, ohne voll daran teilhaben zu können, und ohne religiös auf seine staatsbürgerliche Verantwortung vorbereitet zu sein, verläßt der christliche Araber das Land,
um sieh in eine Gesellschaft christlicher Struktur einzugliedern, die er dank der allgemeinen Verbreitung der Nachrichtenmedien kennengelernt hat. Er wandert aus, sobald er die Reisekosten aufgebracht und durch Vermittlung schon in Übersee etablierter Verwandter oder Freunde Arbeit gefunden hat. Er geht nach Kanada, den Vereinigten Staaten, Australien, Südamerika. Dieses eine Mal wird ihm nützlich, daß er Christ ist: es öffnet ihm die Tore von Ländern, die Moslems oder Juden manchmal verschlossen sind.
Wenn die christlichen Araber auswandern, so deshalb, weil sie in der sie umgebenden Entwicklungsgesellschaft einen gewissen Wohlstand erreicht haben. Und vor allem, weil sie das Gefühl haben, in einem Klima politischer Unsicherheit, in dem ihre Loyalität angezweifelt wird und auch oft geteilt ist, über den erreichten Lebensstandard nicht hinauslangen zu können. Dieser Faktor wirkt, soweit er wirtschaftlicher
Art ist, auch bei den jüdischen Israelis, deren Auswanderungsrate proportional ähnlich hoch liegt wie die der autochtonen Christen, und in geringerem Maß bei den jordanischen Moslems. ,
Emigration der gehobenen Berufe
Beiläufig gesagt sind die jordanischen christlichen Araber vor allem dank der Entwicklung des Tourismus und der Pilgerfahrten ins Heilige Land zu einem gewissen Wohlstand gelangt. Es wandern in erster Linie Hochschullehrer, Angehörige der freien Berufe, des Mittelstands und Techniker aus. Über 250 jüdi sche israelische Ärzte sind letztes Jahr nach. USA ausgewandert. Sicherlich spielt der wirtschaftliche Rückgang bei der Emigration zahlreicher jüdischer Architekten und Ingenieure eine große Rolle.
Der rein religiöse Faktor ist sekundär
Aber wenn der Fortgang einer beträchtlichen Zahl jüdischer Angehöriger gehobener Berufe in Israel Beunruhigung verursacht, und wenn die jordanischen Studenten in den Ländern bleiben, in denen sie ihre Universitätsstudien absolviert haben, so bedroht diese Auswanderung gleichwohl nicht die Struktur dieser Staaten. Wogegen in den christlichen .— und vor allem katholischen — Gemeinden Panik herrscht.
An die 1500 christliche Arbeiter werden dieses Jahr aus Israel ausgewandert sein, das sind fast drei Prozent ihrer Gesamtzahl. Die Hierarchie schätzt, daß sich diese Zahl im nächsten Jahr verdoppeln und daß die Zunahme erst mit dem fast völligen Verschwinden der alten Gemeinden aufhören wird. Die Lage ist in Jordanien mindestens ebenso tragisch. Bethlehem zum Beispiel war nach dem Krieg von gleich vielen Christen und Moslems bewohnt. Heute zählt man hier nur noch fünf Prozent Christen, von denen viele überdies keine Einheimischen sind und die Stifte und Klöster bevölkern.
So spielen wirtschaftliche, soziale, und politische Faktoren alle eine bestimmende Rolle bei der massiven Auswanderung der christlichen Araber aus dem Heiligen Land. Der rein religiöse Faktor erweist sich dagegen als zweitrangig, da die Christen heute ihre Religion frei ausüben und sich nach Belieben in den beiden Teilen Palästinas organisieren können.
Unterstreichen wir schließlich, daß diese Erscheinung heute in verschiedenen Graden, und aus ähnlichen Gründen, den gesamten Mittleren Orient erfaßt. In Ägypten emigrieren die Kopten oder sind im Übergang zum Islam begriffen. Im Libanon nimmt die Auswanderung der Christen, maronitischer und anderer, rasch zu. In Syrien ebenfalls. In der nächsten Generation wird es vielleicht keine Spuren der einheimischen christlichen Gemeinden mehr geben, sowohl im Heiligen Land wie im ganzen Mittleren Osten.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!