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Das Labouristische Experiment

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Der Sozialismus in der Opposition — oft ergreifende Sehnsucht der Entrechteten — ist etwas durchaus anderes als der Sozialismus an der Macht. Das gilt auch für den englischen Sozialismus. Und dies, obwohl die englischen Sozialisten, von ihrem intellektuellen Flügel abgesehen, jedem Doktrinarismus abhold und ungleich elastischer als die marxistischen Gruppen des Kontinentes sind. Den Führern der Labour Party gilt der Vorteil der Arbeiterschaft ungleich mehr als die Durchsetzung theoretischer, oft wirklichkeitsfremder Prinzipien. Insoweit ist die Labour Party opportunistisch und nicht so unmenschlich und Theorien verhaftet wie etwa der deutsche Sozialismus. Aber auch der englische Sozialismus, weitgehend von den Thesen des Fabianismus gestaltet, hielt der Zerreißprobe, der er in der Wirklichkeit der Politik ausgesetzt gewesen war, nicht stand.

Wenn man von einem Scheitern des englischen Experimentes, Sozialismus in die Wirklichkeit zu übersetzen, sprechen muß, so heißt das im Sinne des vorliegenden Buches, daß die Sozialisten, wie sie selbst bezeugen, nicht vermocht haben, die; englische Wirtschaftspolitik entsprechend den Prinzipien sozialistischer Ideen zu gestalten. Die Labourregierung löste in England eine im wesentlichen „kapitalistische“ Wirtschaftsführung ab. So war es möglich, Vergleiche anzustellen, wie weit die sozialistische Wirtschaftsweise mit derrt ökonomischen und sozialen Fortschritt identisch und geeignet ist, Wohlfahrt in Freiheit zu sichern und zu vergrößern.

Sozialistische Wirtschaftsführung, das sollte nach der Theorie des Sozialismus eine Mehrergiebigkeit der Produktion und eine entsprechende Steigerung der einzelmenschlichen Wohlfahrt bedeuten. Tatsächlich aber vermochte die Labourregierung die ökonomische Ergiebigkeit der englischen Wirtschaft nicht annähernd im erwarteten Maße zu steigern. Der Grund: Das Interesse des Menschen (des Mannes auf der Straße) kann durch Ideen allein, durch die Vorstellung in einer sozialistischen Gesellschaft zu leben, nicht gesteigert

*) Zu einem neuen Buch von Univ.-Prof. Doktoi lohannes M e s s n e r, „Das englische Experiment des Sozialismus“. Tyrolia-Verlag, Innsbruck-Wien-München 1954. 106 Seiten. werden. Auch das Bewußtsein, in einem „volkseigenen“ Betrieb zu arbeiten, führte bei den englischen Arbeitern keine zusätzlichen Leistungsanreize herbei. Gerade ein System wie der Sozialismus, der so sehr auf die wirtschaftlichen Interessen der Menschen Bedacht nimmt und vom Vorhandensein dieser Interessen seine stärksten Impulse bezieht, müßte diese Dinge eher erkennen als die „bürgerlichen“ Parteien.

Das Ergebnis von Jahren sozialistischer Wirtschaftsführung war also beileibe kein volkswirtschaftlicher Mehrertrag. Der Versuch, den Unternehmer durch Führungskollektive zu ersetzen und das Verantwortungsbewußtsein zu kommunalisieren, führte zu einem Autoritätsmanko im Sektor der verstaatlichten Betriebe.

Das spezifische Ziel des englischen Sozialismus war nicht der klassenlose Staat, der als utopische Wunschvorstellung erkannt wurde, sondern der Wohlfahrtsstaat. Dieser, ein allgemeiner Zustand von Wohlfahrt und Sicherheit, sollte durch weitreichende Verstaatlichung der Produktionsmittel und durch die Kommunalisierung des Wohlfahrtswesens geschaffen werden. Im Prinzip ist der Wohlfahrtsstaat, wenn ein ausreichendes Maß an persönlicher und Gewissensfreiheit gesichert ist, durchaus mit den Prinzipien des christlichen Sittengesetzes vereinbar. Daher sind auch die englischen Katholiken in großer Anzahl bei der Labour Party. Es darf aber nicht bei der Gedankenkonstruktion „Wohlfahrtsstaat“ bleiben. Das heißt: Es müssen alle Bedingungen geschaffen werden, welche die Wohlfahrt zur Wirklichkeit und nicht etwa zum Vorbehalt einer dünnen Schichte von politischen Privilegierten und Managern machen. Vielfach hatte der englische Sozialismus große Erfolge in seinem Bemühen, die angestrebte Wohlfahrt zu einer allgemeinen zu machen. So in der Frage der Vollbeschäftigung. Im Jahre 1950 gab es 274.000 Arbeitslose, in der Zwischenkriegszeit bestand die industrielle Reservearmee aus 1,2 Millionen bis 2,5 Millionen Menschen. Auch die Einkommenshierarchie wurde entscheidend umgebaut. Ganz erheblichen Realeinkommenssteigerungen auf der Seite der Arbeitnehmer standen bedeutende (relative) Gewinn- 'und Ein-kommenskiirzungen auf der Unternehmerseite gegenüber.

Dies alles, gewichtige Erfolge auf dem Weg zur Sozialreform, wurde in der Wirkung aber weitgehend durch die Verstaatlichung aufgehoben. Es erwies sich wieder einmal, daß, wer in der Etatisierung des Wirtschaftslebens eine Möglichkeit sieht, individuelle Wohlfahrt aller zu sichern, die Natur des Menschen verkennt.

Hier einige Ergebnisse der Verstaatlichung: Die Kapitalausstattung je Arbeiter war 1951 gegenüber 1938 nicht größer geworden. Obwohl dem Inselreich nicht weniger als 39.500 Millionen Dollar an Auslandshilfe zugeflossen waren. Dagegen stieg die Produktivität in den USA von 1938 bis 1945 allein um 45 Prozent.

Die Sozialisierung erheblicher Teile der Produktionsmittel brachte eine Reduktion des arbeitnehmerischen Interesses. Das aber hieß: Der englische Arbeiter produzierte teurer. Die Folge war eine Kosteninflation, eine Verringerung der Kaufkraft des Pfund Sterling und eine Senkung des Realeinkommens. „Zu viel Geld ist hinter zu wenigen Gütern her“ (Der Sozialist St. Cripps, zit. S. 39). Ein Beispiel aus der Kohlenförderung: Im Jahre 1913 produziert ein Arbeiter im Durchschnitt 321 Tonnen, im Jahre 1947 sind es 263 Tonnen. Dies trotz des Einsatzes modernster Maschinen. Gegenüber konkurrenzierenden Betrieben in der Privatwirtschaft arbeitet die verstaatlichte Industrie um 50 Prozent teurer.

Das Ergebnis der Sozialisierung um jeden Preis ist, daß nicht die Lebenshaltung der Arbeiter an die der „Bourgeoisie“ angeglichen wird, sondern das Absinken bürgerlicher Lebenshaltung auf die Stufe der Arbeiterschaft. An Stelle allgemeiner Verbürgerlichung — das unausgesprochene Ziel aller Sozialismen — kommt es zur allgemeinen Verproletarisierung (wenn auch nur in Ansätzen).

Das labouristische Experiment war notwendigerweise mit dem Versuch verbunden, die Stellung des Menschen, insbesondere des Dienstnehmers, in der Gesellschaft neu zu fixieren. Sozialismus, das soll auch die Aufhebung der Herrschaft des Menschen über den Menschen bedeuten, die Liquidation jahrtausendealter Despotien.

Und das Resultat? An die Stelle der alten „Despoten“ sind neue getreten. Wenn nicht die alten Herren, die Generaldirektoren und die Verwaltungsräte in den großen Unternehmungen geblieben sind. Trotz Verstaatlichung. Der Unternehmer — als Funktionär — erwies sich als unersetzbar. Da, wo der Staat Eigentümer der Produktionsmittel wurde, konstituierte sich, den Privatkapitalismus ablösend, der Staatskapitalismus. Die Macht oder, besser, die Minder-Macht, der Arbeiter, blieb die gleiche. Ja, es wurde noch schlechter. Die englischen Gewerkschaften, hervorragend geführt und frei von jeder unmittelbaren Bindung an die Entscheidungen von Parteisekretariaten, waren zum ersten Male in ihrer ruhmreichen Geschichte nicht mehr frei in ihren Handlungen. Die Chefs in den Betrieben, das waren nicht mehr die „üblen Burschen“ von der Unternehmerseite, mit denen man in den Ring stieg, sondern es waren zu einem Teil ehemalige Gewerkschafter oder Männer, die von der Labour Party abhängig waren. Auch der sozialisierte Betrieb war keine Verwirklichung des Prinzips der betrieblichen Demokratie. Freilich waren die Gewerkschaften auch die ersten, die in der Labour Party offen ihre Ernüchterung eingestanden und ein erhebliches Stück von ihrer Begeisterung für die Sozialisierung abtrugen. Auch die Genossenschaften, eine machtvolle, unmittelbar in der Labourführung vertretene Bewegung, legten Wert auf die Feststellung, daß sie wohl zwischen Staatseigentum und Gemeineigentum zu unterscheiden wüßten, Für kleine Unternehmungen forderten sie gar, das Eigentum an den Produktionsmitteln an die Arbeiter zu übergeben (wohl die fürchterlichste Forderung für einen orthodoxen Marxisten).

Der Ablauf des englischen Sozialisierungs-versuches wird nun von Univ.-Prof. Messner in hervorragender Weise dargestellt. Die Auswahl der Unterlagen besorgte der Verfasser mit kundiger Hand, hat er doch, wie wenige Nicht-engländer, Einsicht in das sozialökonomische Geschehen in England. (Professor Messner war viele Jahre in England und verbringt auch jetzt noch die Hälfte des lahres in England.)

Die vom Autor veröffentlichten Unterlagen, fast durchweg von sozialistischen Verfassern stammend, werden durch Kommentare ergänzt, die die Beziehung des jeweiligen Sachverhaltes zur Theorie herausstellen und darüber hinaus beweisen helfen:

1. Daß der Sozialismus ohne Ethos, ohne den „neuen Menschen“, nichts ist als eine besondere Form der Erwerbswirtschaft.

2. Ist daher weitgehend Denken im Sozialismus nichts als verdecktes ökonomisches Interesse, das freilich die christliche Soziallehre zu lange und in einer geradezu unheilvollen Weise übersehen hat.

3. Bedingt die Sozialisierung der Produktionsmittel wohl einen Wechsel der Eigentümer, keinesfalls aber bringt sie neue Leistungsimpulse und mehr Ertrag. Wohlfahrtssteigerung kann aber nicht allein durch Neuverteilung der Produktionsmittel und des Sozialproduktes („die Reichen sollen zahlen“) herbeigeführt werden, sondern bedarf zusätzlicher Produktivität als Folge vermehrter Interessen der Arbeiter an „ihren“ Betrieben.

4. Wo Despotien sind, vermag sie eine Sozialisierung nur in ihrer Art, aber nicht in ihrem Wesen zu ändern. Wo Unfreiheit ist, erhält sie unter dem Sozialismus nur einen anderen Titel, bleibt aber bestehen.

Dies alles gilt, wenn der Sozialismus weiter glaubt, in der Etatisierung des wirtschaftlichen und außerwirtschaftlichen Lebens ein Allheilmittel zu sehen.

Die Studie Messners liefert für diese Erkenntnisse — auf wenigen Seiten — reiches Tatsachenmaterial. Wer den Sozialismus nicht nur als Theorie, sondern, was heute wichtiger ist, als Wirklichkeit verstehen will, kann an dem Buch nicht vorbeigehen.

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