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Das Netz reißt leicht

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Seit 138 Tagen sitzt ein Sozialist am Ballhausplatz, ein Sozialist regiert im Stadtpalais des Prinzen Eugen, im Finanzministerium. Tatsachen, die noch vor wenigen Monaten einem Teil der Österreicher — ja wahrscheinlich einer Mehrheit — unvorstellbar waren. Bundeskanzler und Finanzminister: das waren und sind beim kleinen Mann die Garanten der Sicherheit, der wirtschaftlichen Stabilität, das sicheren Schillings. Das waren Raab und Karnitz, das waren Klaus als Bundeskanzler und Koren als Wirtschaftsprofessor im Finanzressort: fast Symbole der Sicherheit für Sparkonto und Sparstrumpf, Stabilisatoren, wenn gerade irgendwo in Europa auf- oder abgewertet wurde, Garanten für die Urlaubsreise und den Bausparvertrag. Nun, die Ära der ÖVP ist mit dem März 1970 zu Ende gegangen. Aber was kann der Wirtschaftsbeobachter — eben 138 Tage nach der Amtseinführung eines SPÖ-Kabinetts — registrieren? Die Wirtschaft blüht; wir erleben die kräftigste Konjunktur seit den heißen fünfziger Jahren, die Spareinlagen — Indikationen des Vertrauens — sind so hoch wie noch nie.

Wir schwimmen auf der Woge der Hochkonjunktur, die — mit oder ohne Zutun — die derzeitige Regierung zementiert wie kaum ein anderer Umstand. Am Ende der Periode von 1968 bis 1970 wird Österreichs Bruttonationalprodukt um etwa 16 Prozent gewachsen sein — eine beachtliche internationale Rekordziffer.

Die Wachstumsrate der Industrieproduktion betrug 1969 gegenüber 1968 mehr als elf Prozent — ein Satz, der seit den fünfziger Jahren nicht erreicht wurde.

Das macht es natürlich der großen und kleinen Opposition schwer, die Regierung im Bereich der Wirtschaftspolitik wirksam anzugreifen, wenngleich Kreisky und Androsch die internationale und nationale Konjunktur wie eine reife Frucht zugefallen ist.

Umgekehrt war es die sozialistische Opposition, die in der Periode der letzten Rezession in den Jahren 1967/68 die damalige ÖVP-Allein-regierung mit aller propagandistischen Schärfe angriff, ihr mangelnde Flexibilität und unangemessene Budgetpolitik vorwarf. Nun haben sich die Zeichen verkehrt. Die Volkspartei darf (und soll) als Opposition die wirtschaftliche Entwicklung kritisieren. Und sie tut dies — leider Gottes — auf eine höchst fatale Art und Weise. Zum Zeichen einer beschleunigten Hochkonjunktur, in der wir derzeit stekken, gehören steigende Preise. Steigende Preise sind das Ergebnis einer angespannten Kreditsituation, eines ausgeschöpften Arbeitsmarktes, eines hohen Auftragsstandes in vielen Branchen und langer Lieferfristen. Daß diese Erscheinung kein österreichisches Alpenwunder ist, beweisen die Raten der Preissteigerungen in fast allen westlichen Industrieländern, die ebenfalls in der Hochkonjunktur stecken oder bereits den Höhepunkt überschritten haben. In der ersten Jahreshälfte 1970 — so berichtet die OECD — betrugen die Steigerungsraten in den USA und Großbritannien 5K Prozent, in Frankreich 5% Prozent, in Italien 6% und in der deutschen Bundesrepublik 1% Prozent. Ist also eine Preissteigerungsrate unter 5 Prozent, wie sie die Wirtschaftsforscher für 1970 prophezeien, eine Katastrophe? Man wird sich in

Österreich daran gewöhnen müssen, mit der Konjunktur zu leben. Das heißt, daß auch der kleine Mann mit dfen Grundgesetzen der Volkswirtschaft bekannt gemacht werden muß. Was aber macht die Volkspartei? Seit mehreren Wochen zeigt sich die Tendenz, die steigenden Preise zum Angriffsziel der Oppositionspolitik zu machen. Mit geradezu pedantischem Spürsinn forscht man anscheinend in Drogerien und Super-markets (einschließlich des KONSUMS), bei Naschmarktständen und in Wirtshäusern nach gestiegenen Preisen. Der Pressedienst der großen Opposition bringt fast täglich neue Meldungen von der Preisfront; und dazu Erklärungen der ÖVP-Politi-ker wegen der „steigenden Preis-Hut“. Will man also den einfachen Österreicher verdummen? Verhindert man eine vernünftige Aufklärung, die die Ursachen steigender Preise — und das Problem wird sich im Herbst ohne Zweifel verschärfen — sichtbar macht?

Man könnte darüber hinweggehen, wäre das Spiel nicht so gefährlich:

• Das Geschrei über steigende Preise löst üblicherweise weitere Preissteigerungen aus; der kleine Kaufmann kommt ebenso auf den Geschmack wie ganze Branchen: die Preistafeln werden ausgewechselt.

• Das Geschrei über steigende Preise löst üblicherweise aber auch Lohnforderungen aus. Und für den Herbst sind Tarifgespräche mit dem ÖGB angekündigt

Nun weiß niemand, wie stark der Druck sein kann, dem eine verantwortungsbewußte Gewerkschaftsführung von unten her ausgesetzt werden kann. Und auch ÖGB-Präsi-dent Benya weiß das nicht — überhaupt dann, wenn zu hoch geschraubte Hoffnungen kleiner Gewerkschaftsfunktionäre auf die SPÖ-Regierung enttäuscht werden müssen. Was aber geschieht, wenn mit einemmal der Damm ins Rutschen kommt? Wenn zur Instabilität im Parlament die Unsicherheit der Sozialpartner kommt? Schon warnt die Industriellerwereinigung davor, daß die Kosten schneller wachsen als die Produktivität. Die Industrie macht dafür bereits jetzt höhere Lohnkosten verantwortlich. So sind die Tariflöhme (auf Stundenbasis gerechnet) in den ersten vier Monaten

1970 um 12,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Die Arbeitsleistung je Arbeiterstunde jedoch ist (unter Einrechnung der Arbeitszeitverkürzung) nur um 9,5 Prozent gewachsen. Und die Arbeitgeber konstatieren: „Das Zurückbleiben der Produktivitätssteigerung gegenüber der Lohnentwicklung ist offensichtlich.“ Aber auch der jüngste OECD-Bericht über Österreich warnt vor der Lohnwelle im Herbst. „Denn“, so die OECD, „die Auswirkungen für

1971 könnten sehr gefährlich sein“. Wackelt also die Konjunktur bereits, wie der Wirtschaftsredakteur einer Wiener Tageszeitung kürzlich fragte? Noch deutet nichts darauf hin. Aber es wird darauf ankommen, ob und wie Regierung und Mehrheits-opposition, wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer die wirtschaftliche Entwicklung im Griff behalten. Man kann nur höchst eindringlich davor warnen, Lizitation, Demagogie und Druck von außen zu Motiven der wirtschaftlichen Lagebeurteilung zu machen. Das fein gesponnene Netz aus Vertrauen reißt nur allzu leicht. Nicht nur für die Regierung — auch für alle anderen Österreicher, die letztlich im gleichen Boot sitzen.

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