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Das neue alte Schisma

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Der große, seit ungefähr sechs Jahren immer schärfer gewordene Konflikt zwischen der Sowjetunion und China ist nunmehr vollends und mit dramatischer Heftigkeit offen ausgebrochen. Auf seine Weise spiegelt dieser Konflikt das zentrale Problem unserer heutigen Welt wider. Da ist ein Land — zugleich das größte in Europa und das drittgrößte in Asien —, dessen Menschen auf seltsamen und grausam opferreichen Wegen einen bedeutenden gesellschaftswirtschaftlichen Aufstieg erreicht haben. Trotz ideeller und politischer Andersartigkeit, lediglich wegen der von allen nach höherer Zivilisation strebenden Nationen gemeinsam angewendeten Mittel und Formen der Wissenschaft und der Technik, aber auch infolge des dadurch erreichten höheren Lebensstandards, gelangte die Sowjetunion zu wichtigen Gemeinsamkeiten in der weltpolitischen Zusammenarbeit mit den Ländern des Westens. Dieses Land fühlt sich bereits imstande, mit den anderen mächtigsten Staaten um die Führung der Welt zu wetteifern.

Da ist das andere Land, China. Es Ist das an Menschenzahl reichste Land der Welt, und es brachte einmal eine ungemein reiche, für die gesamte Menschheitsentwicklung wichtige Kultur hervor, die jedoch stagnierte und erstarrte; so blieb das riesige chinesische Reich hinter der Entwicklung weit zurück und wurde zusätzlich später durch ausländische Überdeckung in weiterem Stillstand verhalten. Heute besitzt ein Chinese im Durchschnitt ein Viertel des Jahreseinkommens eines Bewohners der Sowjetunion im Jahre 1920 — also zur Zeit der größten Nöte dieses Landes seit der Gründung der UdSSR bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs. So verfügt die kommunistische Regierung Chinas — was sie freilich kaum offen zugeben kann — über keine Voraussetzungen, um sich in absehbarer Zeit jene hochgesteckten Ziele zu setzen, auf denen die Sowjetunion ihre Innen-, Außen- und Parteipolitik und Theoretik einstellt.

Sieht man von den zuletzt genannten Momenten ab, dann entspricht der Unterschied in der Lage der beiden Staaten, wenn auch in Varianten, der fundamentalen Differenz zwischen den zwei Typen von Ländern, die es heute auf der Welt gibt, die haves und die have-nots. Über der Zugehörigkeit der Sowjetunion und Chinas zu • jenen • zwei sozialistischen Lagern darf •* nicht vergessen werden, daß die beiden zusammen einem anderen Lager, nämlich dem kommunistischen, angehören, immer noch, trotz des zwischen ihnen sich vollziehenden und den gesamten Weltkommunismus erschütternden Schismas. In dieser ihrer Affinität und in ihrer gleichzeitigen sozialen Entferntheit liegft die Hauptursache für den Konflikt, in dem sie sich befinden.

Die Parteien der beiden Länder haben in den letzten sechs Jahren immer mehr differierende Versionen der von beiden akzeptierten Lehre des Marxismus-Leninismus entwik-kelt.

Die jetzigen Führer der Sowjetunion vertreten die Auffassung, mit deren Schilderung bereits im ersten Absatz dieses Artikels begonnen wurde; dazu ist noch auszuführen, daß sie dem Kommunismus auf der ganzen Welt dadurch zum Durchbruch verhelfen wollen, daß sie zu allernächst den Bürgern ihres eigenen Landes ein Optimum an technischen, wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften und dadurch auch an Wohlstand verschaffen. Sicherlich nicht unberechtigterweise sagen die Führer der KPdSU, daß ein Kommunismus der leeren Mägen wenig Anziehungskraft besitzt. Als wichtigst außenpolitische Voraussetzungen für die Erreichung ihres Zielet betrachten die Sowjetführer vor allem die friedliche Koexistenz und die Bewahrung der Welt vor einem Atomkrieg, der allem Wettbewerb und einigem mehr ein Ende bereiten würde. All das ist nahezu ebenso optimistisch und schematisch dargestellt, wie durch die Kommunisten und entspricht daher nicht ganz und nicht immer den Tatsachen wie der politischen und sonstigen sowjetischen Praxis. So bekämpfen die sowjetischen Führer jegliche ideologische Koexistenz, das heißt, das Vorhandensein und die Propagierung einer anderen als ihrer eigenen Ideologie und — damit verbunden — anderer als von ihnen approbierter künstlerischer Leistungen.

In letzterem gehen die chinesischen Kommunistenführer konform mit den russischen. Ansonsten vertreten sie gänzlich entgegengesetzte Standpunkte: Der Marxismus-Leninismus ist für sie vor allem eine klassenkämpferische Lehre; der durch ihn theoretisch rezeptierte Kommunismus kann somit nicht durch irgendeine Zusammenarbeit mit der feindlichen Klasse erreicht werden, die außerhalb der kommunistisch regierten Ländern herrscht. Für die kommunistischen Parteien, die bereits die Macht im Staate errungen haben, sind demnach jene ausländischen feindlichen Klassen zu Hauptfeinden geworden. Es gibt zur Durchsetzung des Kommunismus auf der übrigen Welt für die regierenden Kommunisten nur den unversöhnlichen, politischen und auch militärischen Kampf. Daher ist die Auffassung der sowjetischen Führer eine Revision, will heißen, ein Verrat an den Lehren von Marx und Lenin. (Auch die chinesischen Kommunisten sind nicht ganz so konsequent. So bemühen sie sich letzthin heftigst um diplomatische und Handelsbeziehungen mit bürgerlichen Ländern — zuletzt auch mit Frankreich, oder die schon vorhandenen mit England aufrechtzuerhalten. Sie können dabei auf verschiedene Gründe hinweisen, zum Beispiel auf den Ausfall an ausreichender brüderlicher Wirtschaftshilfe aus dem sowjetischen Orbit oder auf das Nichtvorhandensein einer geschlossenen kommunistischen Front nach außen, infolge der sowjetischen Konzeption und Praxis der Koexistenz. Mit nahezu wahnsinniger Konsequenz lehnen die chinesischen Kommunisten mit den anderen Atommächten gemeinsame Bewahrung vor dem Atomkrieg, wie überhaupt die Abrüstung aller anderen als der „imperialistischen“ Großmächte ab. So sagte Mao Tse-tung: „Die Atombombe ist ein Papiertiger, mit dem die US-Reaktionäre das Volk in Furcht versetzen wollen. Sie sieht furchtbar aus, sie ist es aber in Wirklichkeit nicht. Natürlich ist sie eine Massenvernichtungswaffe, aber das Ergebnis eines Krieges wird vom Volk und nicht von irgendwelchen neuen Waffentypen entschieden.“ Dieser Wahnsinn kann nur dann verstanden werden, wenn man sich vorstellt, daß es Lebensbedingungen in einem Land geben kann, die selbst die Furcht vor der völligen Vernichtung der gesamten oder sei's, wie die Chinesen meinen, der halben Menschheit, unwesentlich erscheinen lassen.

Die übrigen regierenden kommunistischen Parteien stehen in dem Konflikt zumeist auf der Seite der Russen.

Es stehen von den — ohne Jugoslawien — insgesamt 14 regierenden kommunistischen Parteien drei auf der chinesischen Seite: die Parteien von Nordvietnam, von Nordkorea und von Albanien. Einige andere, wie die kubanische Partei Fidel Castros, nehmen eine neutrale Haltung ein; verhältnismäßig viele, auch solche, die auf der Seite der Russen stehen, traten bis Ende 1963 für eine Beendigung der für alle desaströsen, öffentlichen Polemiken, will sagen: Beschimpfungen, und für entweder eine zweiseitige Aussprache zwischen den Gegnern oder eine Weltkonferenz aller kommunistischen Parteien zur Beilegung des Konfliktes ein. Die letzteren zwei Auswege scheinen jedoch nunmehr nicht mehr gangbar, seitdem die Chinesen kaum umschränkt zur Bildung neuer, „revolutionärer“ kommunistischer Parteien, wo die alten nicht für die chinesische Sache zu gewinnen sind, aufgerufen haben; weiters haben sie russische Kommunisten offen aufgefordert, Chruschtschow abzusetzen.

Der vorletzt genannte Aufruf der Chinesen zeigt, daß sie Hoffnungen auf die Gewinnung auch nichtregierender kommunistischer Parteien setzen. Man sollte zunächst meinen, daß diese Hoffnung, insbesondere im Westen, wenig berechtigt erscheint. Eine Reihe dieser Parteien bekennt sich nämlich immer mehr zu der, dem seit der Entstalinisierumg der Weltbewegung freigewordenen Bedürfnis der Kommunisten nach Harmonie mit ihrer Umwelt entsprechenden „Erweiterung der bestehenden gesellschaftlichen Struktur zugunsten der Arbeiterklasse“, wie das von der am meisten und freimütigsten „revisionistischen“, will sagen: reformfreundlichen, italienischen KP und ihrem Führer, Togliatti, formuliert wurde; das heißt, grob gesägt, daß sie eine evolutionäre Entwicklung wünschen, die ja auch in mehreren, wenn auch sehr vorsichtig gehaltenen Enunziationen der KPdSU über die „Möglichkeit friedlicher Wege zum Sozialismus im Westen“ (allerdings unter Nennung solcher „friedlichen“ Beispiele, wie des Umsturzes von 1947 in der CSSR) in Betracht gezogen wird.

Allerdings ist zu bemerken, daß dergleichen Formulierungen und Vorstöße vor allem von den führenden Kadern und den Intellektuellen der Partei unternommen werden, während die proletarischen Elemente der Unterorganisationen oft noch wenig Verständnis oder Sympathie zeigen. Viele von ihnen haben den Schock der Bntstaldnisierung noch immer nicht überwunden, wenn überhaupt diese selbständig gebilligt. Oft erklären die alten Revoluzzer unumwunden, unter Stalin wäre alles noch klar und eindeutig gewesen, und, was die unter ihm begangenen Grausamkeiten betreffe, so seien sie zum größten Teil nötig gewesen, und im großen und ganzen habe es ja doch nur solche getroffen, die es verdient hatten. Überhaupt denken manche dieser Leute nicht so unlogisch, wenn sie sagen: „Wenn ich auf einmal für evolutionäre Wege und fürs Parlament sein soll, wozu bin ich dann überhaupt Kommunist geworden? Da hätte ich ja gleich zur SP gehen (oder bei der SP bleiben) können!“ Die letzte Wahrheit, die sich hierin verbirgt, ist jenen allerdings nicht bewußt: daß sich in der Tat die Spaltung von 1919 als unnötig, wenn auch psychologisch als unaufhaltbar erwiesen hat.

Gerade atoer das nun heraufgezogene neue Schisma und die mögliche Aufrichtung der 1956 geschleiften revolutionären Konzeptionen bestärken solche Leute in ihrem alten Revoluzzertum. Kommunisten dieses Typs bilden die verhältnismäßig zahlreichen prochinesischen Splittergruppen just im den kleineren westlichen Parteien mit ihren so geringen parlamentarischen Erfolgschancen. Interessanterweise sind Stellungnahmen für die Chinesen oder gar Frontwechsel zu ihren Gunsten gerade in den asiatischen oder erst gar in den (noch nicht zahlreichen) Parteien der afrikanischen - Entwicklungsländer weniger häufig, als man erwarten würde.

Wie soll sich die nichtkommunistische Welt zu dem Konflikt der beiden kommunistischen Giganten verhalten? Bedeutet das Schisma auch gleichzeitig eine Zersplitterung des kommunistischen Vordringens und Vordrängens? Oder werden die sowjetischen Kommunisten gerade nun, wie schon so oft, zum Beispiel bei der Verhinderung der Pariser Gipfelkonferenz, ihre revolutionäre Gesinnung vor der verwirrten Weltbewegung beweisen wollen? Diese und andere Fragen kann nur die Zukunft beantworten.

Soll sich jedoch der Westen der vermutlich nun einsetzenden völligen Isolierung Chinas vom sowjetischen Orbit anschließen und gar auf einen Zusammenbruch des Regimes setzen?

Erstens, hätten die Russen gewiß kein Interesse daran, es so weit kommen zu lassen. Sie wünschen nur, daß China nicht ihre Politik stört und durchkreuzt und daß es sich mit einem bescheidenen, ihm zukommenden zweiten Platz begnüge. Zweitens, besteht selbst unter einer weiteren Verschlechterung der inneren Lage in China immer noch nicht die Möglichkeit zu einem politischen Zusammenbruch des Regimes, das von zwei Millionen gutgedrillter Kommunisten unter allen Umständen gehalten wird. Die Veränderungen, die wir dort wünschen, können nur durch innere wirtschaftliche Verbesserungen und durch die hierdurch bewirkten gesellschaftspolitischen Veränderungen und deren Auswirkungen auf die Parteikader und ihre Zusammensetzung herbeigeführt werden.

Dennoch muß sich der Westen erst recht zusammenschließen, wenn der Kommunismus sich spaltet — doch nicht, um China nunmehr anzugreifen oder unter besonderen Druck zu setzen, sondern um den armen Menschenbrüdern in dem kommunistisch regierten Land die Hilfe zu gewähren, die sie von den anderen kommunistischen Ländern nicht erhalten .können.

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