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Das politisch-geographische Bild des neuen Europa

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Unter den Veränderungen am politischen Kartenbild Europas, die der erste Weltkrieg auslöste, war zunächst das Verschwinden der österreichisch-ungarischen Monarchie als einer bestimmenden Großmacht aus dem europäischen Kräftefeld am augenfälligsten. Die zweite bedeutende Tatsache war, daß auch das Großreich Osteuropas, der russische Kaiserstaat, damals (in seiner innenpolitischen Struktur gewandelt) große Teile seiner tief in den mitteleuropäischen Raum vorgetriebenen Westpositionen verlor. Das beharrliche, mehr als dreihundert Jahre währende Ringen Rußlands um diese Stellungen an der Ostsee und Weichsel schien negativ beendet zu sein. Der russische Grenzposten, der 1914 knapp 300 Kilometer östlich und nordöstlich von Berlin und Wien gestanden war, mußte um’ fast 600 Kilometer nach Osten zurückwandern, um den auf polnischem, ukrainischem, lettischem, litauischem, estnischem und finnischem Volksboden neu errichteten Staaten Raum zu geben.

Diesen gewaltigen Verschiebungen gegenüber waren die im europäischen Westen vollzogenen Grenzverschiebungen im Elsaß und in Lothringen, um Eupen und in Nordschleswig geringfügig.

Der zweite Weltkrieg hat von neuem gewaltige Wandlungen auf dem europäischen Staatenschachbrett hervorgebracht und vor allem Deutschland, den zentralen Staat im Raume Mitteleuropas, verkleinert. Die Veränderungen zwischen Atlantik und Ural zeigten zugleich seit 1945 ein starkes Hervortreten der Osthälfte, nicht allein im Zuwachs der Quadratkilometer, sondern auch in der politischen Dynamik. Der Ausdruck dieser Entwicklung ist heute deutlich im Kartenbild Europas abzulesen. Die große osteuropäische Macht im Norden Skandinaviens ist wieder Grenznachbar Norwegens und hat damit das mit viel Mühe eröffnete Tor Finnlands zum freien Atlantik am Fjord von Petsamo verschlossen. Auch Karelien, schon nach dem Winterkrieg 1940 für Finnland verloren, ist nun durch die Abwanderung der finnischen Bevölkerung aus dem finnischen Staate ausgeschieden. Leningrad hat damit sein Hinterland an der Ostsee erweitert und die in konsequenter Folge sich seit Jahrhunderten vorbauende großrussische Kolonisationswelle hat neues Siedlungsland erhalten. Die drei baltischen Staaten, Estland, Lettland und Litauen, sind nun wieder wie vor 1918 ein Stück Rußlands, das seine Stellung an diesen Ostseegestaden noch durch die Angliederung des nördlichen Ostpreußen mit den Städten und Hafenorten Königsberg, Tilsit und Memel erweiterte. Hier ist im „Oblast Kaliningrad”, wie dieser ostpreußische Gebietsstreifen nun heißt, die Neuformung eines Westpfeilers des Slawentums gerade im Gange. Die letzten Deutschen werden in wenigen Wochen das Land verlassen.

Im weiteren folgt die politische Grenze der Sowjetunion im wesentlichen einer Linie, die vielfach in der politischen Geschichte dieser Räume als Grenze wirksam gewesen ist. Sie verläuft von Grodno aus knapp östlich von Bialystok vorbei, den Bug aufwärts, quert dann Galizien knapp östlich Przemysl und erreicht den Karpathenkamm am Uszoker Paß. Der nah dem ersten Weltkrieg und den darauffolgenden polnisch-russischen Auseinandersetzungen auf ukrainischem und weißrussischem Volksboden nach Osten vorgetriebene Staatsausbau bis an die Düna und an den Zbrutsch (dem altösterreichischen Grenzfluß gegen Galizien) ist damit für Polen verloren; Städte, wie Wilna und Lemberg, sind dem russischen Ostraum eingegliedert. Mit Ostgalizien erhält die Sowjetunion nach einer zweijährigen Vorphase zwischen 1939 und 1941 einen Teil der alten österreichisdi- ungarischen Monarchie, der in der Mehrheit bisher von griechisch-katholischen Ukrainern bewohnt war. Die russische Staatsgrenze greift nun über die Kämme der in der Kriegsgeschichte der letzten Jahrzehnte so oft genannten Waldkarpathen hinüber und gliedert die seit 1918 aus dem ungarischen Staatsverband herausgelöste Karpathen-Ukraine in dem Umfang, wie sie bis zum Oktober 1938 bestanden hatte, mit den Städten Užhorod und Munkacz und bis an die obere Theiß, dem russischen Staatsverband ein.

Aus dem rumänischen Staatsverband ist wieder Bessarabien an die Sowjetunion gekommen und darüber hinaus auch die altösterreichische Nordbukowina mit der Hauptstadt Czernowitz. Zwischen Donaumündung und Ostsee gehören damit alle entscheidenden Pfortenlandschaften dem weiten osteuropäischen Tiefland der Sowjetunion an .

Auch das Staatenmosaik des östlichen Mitteleuropa und der südosteuropäischen Halbinsel hat Veränderungen aufzuweisen. Am bemerkenswertesten ist die Neuformung Polens, das nun zwischen Stettiner Haff und Frischer Nehrung, zwischen Oder und Neisse und Bug und San mit Einschluß von rund 100.000 Quadratkilometer ehemalig deutschen Staatsgebietes mit den wichtigen Städten Breslau, Danzig und Stettin eine slawische Neuordnung des östlichen deutschen Tieflandes durchführen soll. Ob auch hier die Absiedlung von mehr als 10 Millionen Menschen von Haus und Hof die aus europäischem Geist gegebene richtige Antwort auf Unterdrückungsmaßnahmen eines diktatorisch geführten Deutschlands gewesen ist, mag einmal die Geschichte erweisen.

Der Staatsraum der Tschechoslowakei ist mit Ausnahme der Karpathen- Ukraine der gleiche wie vor dem Oktober 1938, hat aber durch die restlose Aussiedlung der 3,5 Millionen Sudeten- und Karpathendeutschen ein wesentlich verändertes politisches Gesicht erhalten.

Das magyarische Volk hat seinen Staat im Rahmen der Grenzen von Trianon behalten und verzeichnet nur innerstaatliche „Flurbereinigungen”, die die ansässigen Deutschen und Slowaken betrafen.

Der jugoslawische Staatsraum hat im Nordwesten eine recht bedeutsame Ausweitung erfahren. Nach langen schwierigen Verhandlungen unter den Großmächten ist gegenüber Italien eine Grenze festgelegt worden, die auf dem Boden des altösterreichischen Küstenlandes nicht mehr wie nach 1918 bis in den Raum von Adelsberg und Idria vorgeschoben ist, sondern am Gebirgsfluß der alten slawisch-romanischen Volksgrenze folgt. Jugoslawien erhielt dadurch ganz Istrien mit Fiume, die 1918 italienisch gewordenen Inseln im Golf von Quarnero und die dalmatinische Stadt Zara. Während der altösterreichische Kriegshafen Pola nach Abzug seiner italienischen Bevölkerung an Jugoslawien fiel und die Stadt Görz geteilt wurde, ist Triest und sein unmittelbares Hinterland mit seiner italienischsüdslawisch gemischten Bevölkerung zu einem eigenen Freistaat geworden. Neben der durch die politische Neuordnung bedingten soziologischen Strukturänderungen, vornehmlich in der Batschka und im Banat, mag besonders die neue föderative Aufgliederung des jugoslawischen Staates in sechs Volksrepubliken Tragweite beanspruchen. Hier ist der Versuch gemacht, die alten völkischen Spannungsbereiche in neuer Form zu entlasten. Das Bestreben Bulgariens, sich in die neue, von Belgrad ausgehende politische Aktivfront der Balkanländer einzuordnen, hat wohl mitgewirkt, daß es die 1914 von Rumänien abgetretene Süddobrud- scha weiterbehielt. Die 1941 besetzten ägäi- schen Küstengebiete hingegen fielen an Griechenland zurück.

Albanien hat in den Grenzausmaßen vor 1941 starke Anlehnung an Jugoslawien gefunden und die ehemals italienische Festungsinsel Saseno in der Straße von Otranto erhalten. Griechenland kann als wesentlichen Gewinn die Eingliederung der griechisch besiedelten, aber seit 1912 italienischen Dodekanesinseln in seinen Staatsraum buchen.

Das italienische Staatsgebiet auf der Apenninenhalbinsel hat wohl die schweren Erschütterungen der Kriegsjahre ohne nennenswerten Verlust des Mutterlandes überstanden, wenn auch die Einengung der italienischen Machtsphäre am Nordostwinkel der Adria gewiß nicht zu unterschätzen ist. Die von Österreich geforderte Wiedereingliederung des deutschsprachigen Süd- tirol konnte Italien in einem diplomatischen Ringen verhindern. Die Südtiroler Frage soll durch die Gewährung einer Regionalautonomie, die den ganzen altösterreichischen Anteil Tirols umfaßt, zu lösen versucht werden. Die Grenzberichtigungen gegenüber Frankreich im Tal von Tenda und Brigą in den Südalpen fallen flächenmäßig kaum ins Gewicht. Tiefergreifend auf das politische und wirtschaftliche Leben wirkt der vorläufige Verlust des gesamten afrikanischen Kolonialbesitzes, wobei besonders der Verlust der Siedlungen in Nordafrika, die von zahlreichen italienischen Kolonisten der Wüstensteppe abgerungen wurden, ins Gewicht fällt.

Im europäischen Westen besitzen die politischen Grenzänderungen beschränkten Umfang. Der französische Staatsraum schließt wie vor 1940 Elsaß und Lothringen mit ein. Für das Saargebiet ist eine zwischenstaatliche Lösung zwischen Frankreich und Deutschland mit dem wirtschaftlichen Anschluß an Frankreich vollzogen worden. Die belgische Grenze ist mit Einschluß von Eupen und Malmedy wieder an die Linie vor 1940 gerückt. Im nord- westdeutschen Raum ist wohl mit einer Reihe kleinerer Grenzberichtigungen an der niederländisch-deutschen und luxemburgischdeutschen Grenze zu rechnen- Ob ein ähnlicher Vorgang an dem deutsch-dänischen Grenzabschnitt im nördlichen Schleswig sich vollziehen wird, steht noch aus.

Der deutsche . Staatsraum ist vornehmlich in Norddeutschland wesentlich eingeengt und durch das Einfluten der Volksdeutschen genötigt, heute die gleiche Menge Menschen zu ernähren wie das viel größere und reichere Deutschland von 1937. Die militärische Besetzung und die überaus scharfe Grenzlinie zwischen der sowjetischen und den westlichen Besatzungszonen fördert die immer stärkere regionale Aufgliederung des kleinen verbliebenen Deutschland.

Die tiefgreifenden Wandlungen nadi dem zweiten Weltkrieg haben besonders den mitteleuropäischen Menschen vor gewaltige Veränderungen in seiner kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Sphäre gestellt, sie haben sein Weltbild tief erschüttert. Aber mehr als 1918 ist diesmal nicht allein der Besiegte dieses Krieges, sondern auch der Sieger von den Umgestaltungen berührt, die ihm schwere Aufgaben zuweisen werden.

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