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Das Schlupfloch Europas

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Die italienische Außengrenze gilt nicht gerade als unüberwindbar. Dementsprechend groß ist die Skepsis vor allem Deutschlands und Österreichs.

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Die italienische Außengrenze gilt nicht gerade als unüberwindbar. Dementsprechend groß ist die Skepsis vor allem Deutschlands und Österreichs.

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Innenminister Giorgio Napoli-tano (PDS, Sozialdemokraten) beteuerte neulich, das Schengen-Abkommen werde auf jeden Fall am 27. Oktober 1997 auch für Italien in Kraft treten. Stolz fügte Staatssekretär Pie-ro Fassino (PDS) hinzu, daß die Schengen-Kommission nach einer genauen Überprüfung im Februar dieses Jahres ein positives Gutachten über die Kontrollen an den italienischen EU-Außengrenzen ausgestellt habe. Daß es im Oktober tatsächlich so weit sein wird, ist sehr wahrscheinlich, doch noch nicht sicher, denn die Beziehung zwischen Italien und dem Schengener Vertrag ist eine lange und typisch italienische Geschichte von Verspätungen und geplatzten Terminen.

Das Abkommen wurde von der italienischen Regierung am 27. November 1990 unterzeichnet, doch daraufhin brauchte das Parlament fast drei Jahre, um den Vetrag zu ratifizieren, und noch ein halbes Jahr um die Ratifizierung in Luxemburg einzureichen.

Als schließlich am 26. März 1995 der Vertrag über die Aufhebung der EU-Binnengrenzen in Kraft trat, wurde Italien, zusammen mit Griechenland, aus dem Schengen-Raum ausgeschlossen, weil es sich inzwischen nicht allen technischen und gesetzlichen Voraussetzungen recht-zeitg angepaßt hatte. „Der schwarze Fleck Europas” titelte damals noch „La Repubblica”.

Nun soll es also bald soweit sein. Davon nimmt aber in Italien kaum jemand Notiz. Medien und öffentliche Meinung beschäftigen zur Zeit ganz andere Sorgen: Diskussionsthema Nummer eins ist - neben der Verfassungsreform und dem norditalienischen Separatismus - die Drei-Prozent-Hürde des Haushaltsdefizits, die Italiens Beitritt in die Währungsunion stark gefährdet.

Anders als in anderen EU-Staaten ist die Schengen-Debatte in Italien Gesprächsstoff höchstens für Insider, nicht für das breite Publikum. Dieses Desinteresse ist durchaus verständlich, da eventuelle negative Konsequenzen des italienischen Anschlusses an den Schengen-Raum sicher nicht Italien zu tragen haben wird: Es ist kaum anzunehmen, daß nach dem 27. Oktober illegale Einwanderer, Schleuserbanden und organisiertes Verbrechen von den offenen Grenzen profitieren werden, um endlich ungehindert von Europa nach Italien einreisen zu können. Eher umgekehrt.

Das Potential eines organisierten Kriminalitätstransfers, vor allem Richtung Österreich und Deutschland, ist nur schwer abzuschätzen. Ein großes Problem wird sich aber sicherlich in bezug auf die Überwachung der italienischen Außengrenzen stellen, die alles andere als unüberwind-bar sind. Nach Angaben des Innemi-nisteriums halten sich zur Zeit schon ungefähr 300.000 Ausländer illegal in Italien auf. Diese Dunkelziffer ist sehr umstritten. Nach anderen glaubwürdigen Einschätzungen handelt es sich um ein Vielfaches davon.

Der britische „Economist” sorgte vor einem halben Jahr für Aufregung in Regierungskreisen, als er seine Schätzung von 700.000 Illegalen veröffentlichte. Ein Lokalaugenschein in einer beliebigen mittelgroßen Stadt (vor allem Nord-) Italiens ist vielsagend: die Straßenkriminalität (Prostitution, Rauschgifthandel, Zigarettenschmuggel) ist längst in der Hand von Afrikanern, Albanern und Südamerikanern, von denen nur die wenigsten eine reguläre Aufenthaltsgenehmigung vorzeigen können, obwohl -nach den letzten Angaben des Inne-ministeriums-1996 erstmals die Millionengrenze der Aufenthaltsberechtigten erreicht wurde (1.095.000). Dieser Rekord beruht zum Teil auf einer regelmäßigen Legalisierung der illegalen Aufenthalte.

Die jüngste Flüchtlingswelle aus Albanien hat das Problem der italienischen Außengrenzen nochmals verdeutlicht: von den 15.000 Albanern, die in den letzten Monaten in Apulien von den Sicherheitskräften aufgenommen wurden, sind gleich 2.000 aus den Flüchtlingslagern im Lande untergetaucht, wobei die Anzahl der Flüchtlinge die nicht aufgefangen wurde, natürlich weit größer sein dürfte. Auch Sizilien und die kleine Insel Lam-pedusa südlich von Sizilien sind ein begehrtes Ziel von tunesischen Schleuserbanden.

Auf Grund der effizienten Grenzüberwachung der deutschen und österreichischen Ostgrenzen ist auch eine Art Ausweicheffekt - über das „Transitland” Italien - für illegale Grenzgänger aus Polen und Osteuropa nicht auszuschließen. Die Mafia ist als lokaler Stützpunkt oft mit im Geschäft.

Trotz aller Anstrengungen von Polizei und Küstenwache gelten auf Grund ihrer geographischen Lage Sizilien und die italienische Ostküste allgemein als ein über 1.000 Kilometer langes Schlupfloch nach Europa, und wer einmal auf italienischem Boden steht, hat die meiste Mühe hinter sich, denn bis heute kann ein illegaler Einwanderer im Falle eines Ausweisungsverfahrens vor dem Verwal-tungs- bzw. Kassationsgericht meistens Berufung einlegen und damit die einstweilige Aufhebung des Ausweisungsdekrets erreichen. In der Zwischenzeit bleibt er auf freiem Fuß, auf Nimmerwiedersehen. Eine Gesetzesvorlage über die generelle Möglichkeit eines Gewahrsams der Auszuweisenden wird im Parlament erst besprochen. Abschiebungen sind jedenfalls eine Ausnahme.

Der Wegfall jeglicher Personenkontrollen an den Binnengrenzen ist jedoch nicht unwiderruflich: Frankreich hatte am 1. Juli 1995 das Abkommen in Kraft gesetzt, sofort darauf wendete es aber aus Sicherheitsgründen an seinen Binnengrenzen zu den Benelux-Staaten die Ausnahmeregelung an, die weitere Personen -kontrollen zuläßt.

Es ist nicht auszuschließen, daß ähnliche Maßnahmen auch Italien treffen werden. Vor allem die Landesregierung des Freistaates Bayern schaut mit großer Skepsis dem 27. Oktober entgegen. Die Beaktionen der öffentlichen Medien in Italien im Fall einer .Aufrechterhaltung der Personenkontrollen an seinen Binnengrenzen sind leicht vorauszusehen: für die Linke wäre es wahrscheinlich ein weiterer Beweis für die „ausgrenzende Haltung” Deutschlands gegenüber den europäischen Bestrebungen Italiens, für die liberalkonservative Opposition eine Bestätigung der „Unfähigkeit” der Prodi-Regierung, Italien in Europa salonfähig zu machen.

Die sensationsgierige Zeitung Berlusconis „II Giornale” könnte sich ausnahmsweise einen alten Titel vom Konkurrenten „La Repubblica” ausleihen ...

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