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Das „verlorene Gesicht“

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Die Sozialisten sind im Bundesgebiet durch die Wahlen vom 13. Mai stärker geworden. Absolut und relativ. Vor allem im Westen des Landes. In Vorarlberg betrug der Zuwachs nahe an 30 Prozent! Es ist daher unverständlich, daß man - auch im Ausland — von einer Niederlage der Sozialisten spricht, dies oft vermischt mit einer bedenklichen Hybris. Wenn trotz der ziffernmäßigen Fortschritte von einer Krise der SPOe gesprochen werden kann, so nicht etwa wegen eines Stimmenrückganges. Auch ist die Krise keine Wachstumskrise, sondern als ein entscheidender Umbau in der Struktur der Wählerschichten im Osten Oesterreichs zu verstehen und dies vor allem im Verhältnis zu der in einer bemerkenswerten Weise programmlosen, aber mit wirksamen Tatsachenhinweisen operierenden OeVP.

Das Ergebnis dieser Wahlen hat gezeigt, daß die SPOe in Wien und Niederösterreich den Charakter einer Arbeiterpartei zu verlieren beginnt. Bisher traditionell weitgehend sozialistische Wählergruppen haben den Marsch nach rechts angetreten. Zur OeVP, das heißt zum OeAAB, welcher vor den liberalen Gruppen in der OeVP der große Gewinner dieser Wahl zu sein scheint. Die Verluste bei den Arbeitern wurden von den Sozialisren überkompensiert durch Gewinne bei den Kleinbürgern, bei den Linkssozialisten und im Burgenland bei den dort von der OeVP vernachlässigten Halbbauern. So ist nun die SPOe offensichtlich eine Volkspartei geworden, unter Aufgabe ihrer klassischen Wesensart als Arbeiterpartei, im allgemeinen eine Partei von Arbeitern und Einkommens-Bürgern. Mit 1. Mai 195 5 waren übrigens nur noch 39,71 Prozent der Mitglieder der SPOe Arbeiter!

Welches sind nun unter anderem die Ursachen für das relative und in manchen Bundesländern auffallende Zurückbleiben der SPOe gegenüber der OeVP, die sich doch zuweilen als Unternehmerpartei ansprechen läßt (obwohl sie es nur mehr zu einem Bruchteil ist, es sei üenn. man rechnet die Landgreißler und Bauern dem Unternehmerstand zu).

Die Arbeiterschaft, die zuvorderst von der SPOe noch angesprochen wurde, ist heute keine Einheit mehr (wenn sie es je gewesen ist), sie ist differenzierter,- als man es in den Führungsgremien der sozialistischen Parteien, sehr zu deren Nachteil, wahrhaben will.

Die verbeamteten Arbeitergruppen (die Facharbeiter etwa und die Meister) wachsen, als eine Folge des technologischen und betriebsorganisatorischen Fortschritts, relativ stärker als die Gruppe der Hilfsarbeiter. Ein Facharbeiter will nun nicht als Proletarier klassifiziert werden. Schon gar nicht will es seine „Gattin“ (als diese noch seine „Frau“ war, war sie vielleicht mit einem ihr zugesprochenen sozialen Status als ..Proletarierin“ einverstanden). Die Arbeiter haben zu einem großen Teil nicht mehr ihre Ketten zu verlieren, sondern da und dort bereits Autoketten, ein Motorrad oder ein Siedlungshaus Oder eine Eigentumswohnung. Ich weiß von Bekannten, die, einst Wähler der SPOe, diesmal die OeVP gewählt haben. In eiskalter Berechnung, weil sie glaubten, bei einem Wahlsieg der Sozialisten ihre Eigentumswohnung zu verlieren. Ich meine, daß etwa Nationalrat Prinke sein Mandat vorwiegend durch die von ihm geschaffene Institution des Wohnungseigentums erworben hat.

Die SPOe ist aber in Pathos und Programmatik noch immer eine Hilfs-Arbeiter-Partei. Daher ist sie für jene Gruppen, die sich ent-proletarisiert fühlen oder mit orthodox-sozialistischen Leitbildern nicht viel anzufangen wissen, eine „fremde“ Partei geworden. Darin liegt nun für die SPOe eine gewisse Tragik, ist sie es doch gewesen, der viele der Arrivierten ihren sozialen und ökonomischen Status verdanken, eine „bürgerliche“ oder scheinbürgerliche Lebensform. Da die Partei mit ihren offiziellen Zielvorstellungen nicht im Maß der erreichten Entproletarisierung mitgegangen ist, steht sie für viele Arbeiter bereits am anderen Ufer. Dazu kommt, daß anderseits die SPOe für die standesbewußten Arbeiter als ein Unternehmerkollektiv, wenn auch besonderer Art, erscheint, als Repräsentanz unternehmerischer Interessen, mit deren Vertretern sich die Arbeiter verblüfft auseinandersetzen müssen, haben doch auch die Genossen Generaldirektoren nach „kapitalistischen“ Grundsätzen zu arbeiten (s. „Neue Zeit“, Graz, vom 13. Juni 1953). Die Annahme der Arbeiter, die Verstaatlichung werde ihnen eine drastische Wohlfahrtssteigerung und vor allem eine neue Art der Führung im verstaatlichten Betrieb bringen, hat sich als abstrakte Ansicht erwiesen. Die Figur des Unternehmers uni der Apparat sind auch im verstaatlichten Betrieb geblieben.

Dazu kommt, daß der „Kapitalismus“, weil gezähmt, heute bei den Massen bereits ein ferner, geradezu historischer Gegner ist. Viele Gegner der Kapitalisten sind darüber hinaus nur verhinderte Kapitalisten und bereit, bei Gelegenheit alle Chancen zu nützen, die sich aus einem gehobenen Einkommen ergeben, und einen politischen Standortwechsel vorzunehmen.

Zudem kommt (von Vorarlberg abgesehen): Wo sind die großen Kapitalisten? Ist doch zum Beispiel 70 Prozent des Aktienkapitals in Oesterreich in den Händen des Staates und öffentlich-rechtlicher Körperschaften.

Die unglückliche Idee der Manager verstaatlichter Betriebe, für die SPOe demonstrativ Wahlpropaganda zu machen, hat die Ansicht der Massen noch bestärkt, daß die SPOe eine Generaldirektorenpartei sei. Nun sind für den Arbeiter Generaldirektor und Generaldirektor das gleiche. Eine Mitgliedskarte der SPOe in den Händen des Generaldirektors kann kaum etwas über seine Gesinnung aussagen, sondern nur über die Art, wie „man“ Generaldirektor geworden ist.

Das sollte eine der Erkenntnisse dieser Wahl für die SPOe sein: Je mehr Sozialismus, besser: je mehr orthodoxer Marxismus, je mehr Verstaatlichung und Apparatisierung des privaten Lebens, desto geringer sind die Chancen, an die Alleinmacht zu kommen. Das „Volk“ weiß mit dem Geschenk der Uebereignung der Produktionsmittel nichts anzufangen, weil das formale Staatseigentum eben nicht als konkretes Eigentum beim einzelnen aufgefaßt wird. Schon gar nicht beim Arbeiter in einem Staatsbetrieb, der wenig das Gefühl hat. sein eigener Unternehmer zu sein.

Nach links wurden sicher (in Wien) Stimmen von der SPOe abgegeben, während die Linkssozialisten als Gruppe faktisch liquidiert wurden und zur SPOe zurückkehrten. Nun liegt das Dilemma der SPOe darin, daß sie in Hinkunft wohl noch von ganz links Stimmen aufnehmen kann, aber bei diesem Einantwortungs-prozeß Gefahr läuft, nach rechts Schichten abgeben zu müssen, die ihr seit 1949 treu geblieben sind. Eine Intensivierung marxistischer Forderungen müßte jene Liberalen abdrän-een. die aus ihrem antiklerikalen Ressentiment heraus SPOe gewählt haben (mangels einer liberalen Partei), aber von ihrer orthodoxliberalen Schauweise nicht abgekommen sind.

An einen weiteren Abbröckelungsprezeß bei der KP zu glauben, halte ich derzeit nicht für richtig. Die KP ist „Glaubenspartei“ und konnte sich ihren Kader erhalten.

Die Liberalen konnten diesmal — trotz der großen Chancen — nur zum Teil von der Propaganda der SPOe angesprochen werden. Im allgemeinen sind diejenigen, die man in einer unbekümmerten Vereinfachung als „Liberale“ anspricht, zugleich „Bürgerliche“. Nun ist in der sozialistischen Terminologie der „Bürger“ noch immer der, wenn auch in weiter Ferne verschwimmende Gegner. Es ist rührend zu lesen, wie auch heute erfahrene SP-Nationalökonomen, die sich der Apparatur der liberalen Nationalökonomie bedienen, von der „bürgerlichen“ Volkswirtschaftälehre sprechen, ohne sich zu vergewissern, worin das Wesen dieses „Bürgerlichen“ gelegen ist.

Nun war es nicht gut möglich, an die gleichen „Bürgerlichen“ heranzukommen, die man durch drei Jahre als geradezu natürliche Gegner jeder Form von sozialistischer Gesellschaftsordnung hingestellt hatte. Warum sollten also die bisher nicht sozialistisch votierenden Liberalen durch Abgabe der Stimmen für die SPOe dazu beitragen (wie es ihnen für den Fall eines SPOe-Wahlsieges prophezeit wurde), die Bedingungen ihrer Existenz zu verschlechtern?

Hätte man jedoch die freiheitlichen Sozialisten mehr zu Wort kommen lassen, wäre es wahrscheinlich möglich gewesen, gewichtige Randschichten aus dem bürgerlichen Lager zu gewinnen.

Die Bauern haben diesmal wieder weitgehend die Rechtsparteien gewählt. Wenn in den Dörfern die sozialistischen Stimmen anwuchsen, o als Folge der Ansiedlung von Angehörigen nichtbäuerlicher Berufe. Von den Mitgliedern der Partei sind übrigens nur noch 1 Prozent Bauern.

Vor allem die Milchpreisdiskussion wurde von den Bauern als eine Art Unbedenklichkeitstest gewertet. Wenn auch die von den Sozialisten geforderte Holzexportabgabe die Masse der Bauern kaum betroffen hätte (der Bauernwald ist ja nur mit einem Bruchteil am Holzexport beteiligt), schien den Bauern doch die Stellungnahme der Sozialisten in der Milchpreisfrage gegen ihren Stand gerichtet zu sein.

Den gläubigen Christen wurde es auch bei dieser Wahl von der SPOe geradezu verwehrt, sozialistisch zu wählen. Die Art, wie sich die SPOe in den letzten Jahren gegeben hat, ließ auf das Vorhandensein von Plänen, die christlichen Kirchen Zumindestens aus' dem öffentlichen Leben völlig abzudrängen, schließen.

Wenn die „A.-Z.“ von der „Pfaffenschule“ spricht („A.-Z.“ vom 8. Oktober 1946), wenn das Anbringen von Kruzifixen in den Schulen als Störung des Neubaues der Schule empfunden wird („A.-Z.“ vom 4. Mai 1946), wenn Herr Vizekanzler Schärf die christliche Schule als rückschrittlich bezeichnet („Neue Zeit“ vom 19. Oktober 1948) und ein Nationalrat Wimber-ger vehemente Angriffe gegen den Religionsunterricht losläßt („Tagblatt“ vom 17. November 1951), wenn Kardinal Mindszenthy verhöhnt wird („A.-Z.“ vom 9. Februar 1949), bleibt dem Christen kaum eine Qual der Wahl.

Es gab Zeiten in Oesterreich, in denen Teile der jungen Christen — vor allem in den Städten — in der sozialistischen Bewegung eine der Chancen sahen, christlich-soziale Grundsätze zu verwirklichen. Die in den letzten Jahren erwiesene konsequente wörtliche und durch Tatsachen erwiesene antichristliche Haltung der SPOe, insbesondere ihres derzeitigen Obmannes, gaben diesmal den Christen den Stimmzettel der OeVP geradezu in die Hand.

Was täte es der SPOe für einen Abbruch, wenn sie — im Rahmen einer Liberalisierung ihres Programmes und die Zeichen der Zeit verstehend — zu einer „Labourisierung“ ihrer Grundsätze käme und zu einer undoktrinären, offenen Partei würde, der gegenüber die Christen die gleiche Haltung einnehmen könnten, wie gegenüber der Labour-Party in England?

Was diesmal vor allem nachdrücklich gegen die SPOe war, das war die sogenannte Volksstimmung. Weitgehend verlor die SPOe vor dem „Publikum“, das heißt vor den parteipolitisch nicht Gebundenen, das „Gesicht“. Vielfach wurde nur noch „trotzdem“ sozialistisch gewählt. Warum nun diese Stimmung gegen die SPOe, die man allenthalben merken konnte, im

Kino bei der Aufnahme der Wahlpropaganda der OeVP, in der Straßenbahn und bei der Interpretation der Wahlplakate?

1. „Mag“ das Volk nicht ein Zuviel an Staat. Als der Staat noch auf der anderen Seite stand, noch Polizeistaat und arbeiterfeindlich war, schien es vor allem für die Arbeiter notwendig, sich dieses Staates zu bemächtigen. Jetzt aber hat man allseits nachgerade genug vom Staat als Apparat.

2. Je mehr Wohlfahrt, je größer das Einkommen, das technischer Fortschritt und die Arbeit der Gewerkschaften den Massen verschaffen, um so stärker ist der Wille, nach Belieben in Freiheit zu leben. Wer diese Freiheit verspricht und den oft geradezu anarchischen Sehnsüchten der Massen Rechnung tragen will, der kann in der tertiären Epoche der Entproletarisierung (in der

Zeit, in der Teile der Arbeiterschaft ein Einkommen beziehen, das ihnen einigermaßen einen Luxuskonsum gestattet) mit Zustimmung rechnen.

3. sind es nun die Apparate selbst, in denen die Massen eine neue Form der „Ausbeutung“ sehen, die Soldknechte verhaßter „Landesherren“, denen sie wider Willen trotz eines neuen Freiheitswissens, dienstbar zu sein haben. Daher der Widerstand gegen die Krankenkassen (an sich doch segensreiche Einrichtungen), daher die Ablehnung der Art, wie die Wohnungskolchosen der Gemeinde geführt werden (als Beweis: die erstaunlichen Resultate in Sprengein mit großen Gemeindebauten in Wien).

4. spielt die Gewerkschaftsfeindlichkeit eine Rolle, obwohl die Abneigung gegenüber den Gewerkschaften kaum gerechtfertigt erscheint.

5. Die sozialistischen Wahlargumente waren weitgehend unwirksam. Das Anti-Raab-Plakat war eine geist- und lustlose Kopie eines ähnlichen und unfairen Plakatmotivs aus dem letzten Wahlkampf. Unfaire Wahlattraktionen lehnt der Oesterreicher ab (daher auch das Nein der Betrachter zum Henker-Plakat der OeVP), ebenso Uebertreibungen im amerikanischen Stil (Wahltürme oder ihre „Volksausgabe“, die konischen Bohrtürme).

An der Art der Regelung des Eigentums am Erdöl sind die wenigsten interessiert. Man weiß: Die Dinge werden ohnedies „auf höchster Ebene“ erledigt. Die Ansicht der Massen ist eben die (und sie ist richtig), daß mit oder ohne Verstaatlichung der faktische Einfluß des sogenannten „kleinen Mannes“ bei den Erdölbetrieben so gut wie null sein wird und aus betriebswirtschaftlichen Gründen — um nicht chaotische Zustände zu schaffen — auch sein muß. Die Wähler sind eben meist nüchterner, als die Propagandisten der Parteien es wissen.

Jedenfalls hat sich die SPOe diesmal der Mehrheit der politisch unentschlossenen Wähler als ein zu komplexes Gebilde dargeboten, als eine Partei, deren endgültige Meinung kaum zu ergründen war, weil sie zu viele ansprechen wollte, wobei sie jene vergaß, die bisher zu ihren treuesten Wählern gehörten. Dazu kam, daß die Sozialisten nicht der „Verzögerung“ gewahr wurden zwischen der Struktur der Partei von 1956, einem Machtgebilde von imponierender Größe mit weitreichenden, den Wählern wohlbekannten wirtschaftlichen und unternehmerischen Verflechtungen, und der gerade noch versehentlich demonstrierten Ideologie. Die austro-sozialistischen Ideen (der „Ueberbau“) und die Produktionsverhältnisse (der „Unterbau“) waren miteinander nicht abgestimmt.

Wäre ich Marxist, würde ich sagen: Die SPOe muß entweder den Ueberbau ändern (nichts leichter als das) oder den Unterbau (nichts schwerer als das: Wer gibt schon Eigentumsmacht ab!).

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