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Das Volk braucht wieder Opium

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Kann sich ein Staat, der im wesentlichen als Kellner und Wirt der globalisierten Wirtschaftsstruktur fungiert, überhaupt demokratisch legitimieren? Kann ein derart schwacher und ausgebluteter Staat noch demokratisch verfaßt sein, wenn etwa die erzwungenen Kürzungen der Budgets die Politiker zu bloßen Mangelverwaltern herabstufen (Martin-Schumann), wenn Orte und ausmachbare Institutionen, für Narr-Schubert Voraussetzungen der Demokratie, verschwinden?

Von der räumlich überlegenen Ökonomie von oben fremd gesteuert, verändert sich Politik. Sie wird von einem Teilnahme ermöglichenden, prinzipiell durchsichtigen, in ihren Effekten zuschreibbaren und verfassungsgemäß verantwortlichen Prozeß zu einem Ritual (Narr-Schubert). Al-/onsin konstatiert, daß die ökonomisch Mächtigen die Verzögerungen formaler demokratischer Prozeduren, Verwaltungsverfahren und parlamentarischer Debatten nicht mehr hinnehmen wollen. Verlangt werde ein Unternehmerstaat, ohne eigene Ziele und folglich ohne Politik, der lediglich Übermittler und Vollstrecker der Entscheidungen einer Elite ist.

Die in Österreich erkennbare Ent-demokratisierung der politischen Vorgänge ist auch Folge dieses neuen Musters des Umgangs des Staates mit der Globalisierung: Politik vollzieht ökonomische Imperative, verwaltet einen umfassenden Niedergang von Standards und Lebensqualitäten, sucht ihr Heil in Rationierungen und Umverteilungen, oft auch in brutaler Effek-tivierung, beschneidet demokratische Rechte und baut so ein gigantisches Konfliktpotential zu den Bürgern auf. Während der Staat den von außen kommenden wirtschaftlichen Druck nach innen, das heißt in bezug auf die Mehrheit seiner Bürger, immer härter weitergibt und dabei auch zunehmend autoritärer wird, degeneriert Politik auf der anderen Seite, wenn es um den Umgang mit der transnationalen Ökonomie geht, zunehmend zu einem Markt (Guehenno).

Auf diesem Markt wird mit dem Kapital der Wert der jeweiligen Interessen ausgehandelt. Damit löse sich aber Politik in eine Vielzahl von partikularen Konfrontationen auf. Ziele, Projekte und Entwürfe, als Ausdruck des - sagen wir es einmal altmodisch - Volkswillens, haben in einer derartigen Landschaft keinen Platz mehr. Tauschprozesse zwischen Gewährung von Standortvorteilen durch den territorialen Wirt und Leistungen von Unternehmen an den jeweiligen territorialen Wirt sind mit dem bisherigen Verständnis von Demokratie und Volkssouveränität nicht vereinbar. Wird derWillensbildungs-zusammenhang vom Rürger über das Parlament zur Regierung gekappt, dann ist das Ende des politischen Bürgers (Guehenno) gekommen.

Martin-Schumann stellen einen anderen Aspekt der Gefährdung der Demokratie in den Vordergrund. Dem Staat droht eine weitere tödliche Gefahr seitens der ständig frustrierten, berechtigten politischen Erwartungen der Bürger. Unbestreitbar sind die Wirkungen des Globalisierungsprozesses auf die Menschen fatal. Immerhin ist es eine satte Mehrheit, die zu den Verlierern gehört. Die Verlierergruppen reichen immer weiter in die Mittelschichten hinein (Lester-Thurow). Für die Stabilität der bisherigen Demokratien war ein Gleichgewicht von Politik und Markt verantwortlich. Zu Recht fragen daher Martin-Schumann: Wieviel Markt hält die Demokratie aus?

Markt und Demokratie seien keineswegs unzertrennliche Rlutsbrü-der, die einträchtig den Wohlstand für alle nähren. Die erforderliche Ra-lance zwischen Markt und Demokratie geht im Globalisierungsprozeß verloren. Die Frage nach der politischen Stabilität des durch die Globalisierung zerrütteten Staatsgefüges ist daher höchst aktuell, die explosive Konfliktträchtigkeit des Sturzflugs staatlicher Lösungskompetenz scheint auf der Hand zu liegen.

Es gibt andererseits sehr ernstzunehmende und auch empirisch faßbare Hinweise darauf, daß trotz allem eine neue Hyperstabilität entstehen könnte. Soll man sich darüber freuen, weil dadurch wenigstens Krieg und Revolution vermieden werden? Eine derartige erfolgreiche Loyalisierung der Massen könnte den schlimmsten Visionen der Weltliteratur im Sinne einer gelungenen Mischung aus Rrad-bury, Orwell, Huxley (so sinngemäß Chomsky-Dieterich) entsprechen: In der Anthropologie des Cyberspace ist die Telekratie das Opium der Armen, so wie der Konsumismus das Opium der Mittelschichten ist. Es scheint keineswegs ausgeschlossen, daß es der global agierenden Ökonomie gelingen könnte, jene Lebensweisen, Lebensformen und Sinngehalte als akzeptierte Lebensführungskonzepte (Sloterdijk) durchzusetzen, die mit dem plastischen Ausdruck des „Tit-tytainment” (Martin-Schumann) umrissen werden.

Nach Rrzezinski (ehemaliger US-Sicherheitsberater) könne man mit einer Mischung aus betäubender Unterhaltung und ausreichender Ernährung die frustrierte Revölkerung der Welt bei Laune halten. Für

Chomsky-Dieterich besteht die erfolgreiche Globalisierung ganz maßgeblich aus einer bewußtseinsmäßig-kulturellen Komponente. Im Rereich der Kommunikation sei eine substantielle Wandlung der Schriftkultur in eine (visuelle) Bildkultur im Gange. Immer perfektere mimetische Verfahren schafften eine eigenständige virtuelle Bealität, die global und hegemonisch normativ gegenüber den nationalen Gesellschaften auftrete. Die von den internationalen Multimedia-Konzernen beherrschten Bewußtseins-Produktionen konzeptualisie-ren den Menschen als ein im wesentlichen egoistisches und egozentrisches Tier, das nach der Maxime einer Gesellschaft des bellum omnium contra omnes lebt. In der Verbindung von Digitalisierung und Multimediatechnik liege ein enormes Indoktrinati-onspotential, indem diese eine neue, eigenständige und globaleWelt schaffe, die virtuelle Bealität.

Wie kann man dieser wahrhaft unheimlichen Situation des Dahinschwindens des Staates begegnen? Die meisten Vorschläge entsprechen einer Denkrichtung, für die das Problem darin besteht, Formen der politischen Organisation zu finden, die den globalen Zusammenhängen gerecht werden (Narr-Schubert). Hinter der immer wiederkehrenden Formel von der Wiedererringung politischer Handlungsfähigkeit und der Aufgabe einer Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Markt und Staat (Martin-Schumann) steht das Konzept der Wiedererringung der Territorialherrschaft, allerdings auf einer geographisch höheren Ebene. Dabei polarisiert sich die Debatte zwischen europäischen und globalen Optionen.

Martin-Schumann bezeichnen die Forderung nach weltweitem Regieren als nützliche Illusion und schöne Idee. Globale Politik auf der Rasis völkerrechtlicher Staatenkoordinierung sei durch eine grundsätzliche Schwäche gekennzeichnet: der Versuch, eine weltweite Konzertierung zwischen den verschiedenen Staaten-gruppen zu erreichen, verleihe den Einzelinteressen gut organisierter Lobbygruppen sowie einzelner Regierungen ein maßloses Übergewicht und räume ihnen ein faktisches Vetorecht ein. Der Stillstand sei vorprogrammiert, wenn einer der wichtigen Akteure nicht mitziehe. Auch für Le-ster-Thurow verfügt globale Politik über wenig Chancen. In einem globalen Markt würden sich die Harmoni-sierangsbedingungen auf dem geringsten gemeinsamen Nenner einpendeln. Tatsächlich: Eine neue weltweite Handelsordnung ist nicht in Sicht (Reispiel: Sozialschutzklauseln). Die globale Umweltpolitik tritt auf der Stelle (Reispiel: Rio).

Die ernüchternde Diagnose von Lester-Thurow: Das Kräftespiel der Weltwirtschaft werde sich noch einige Zeit in einem Umfeld abspielen, in dem es keine klar umrissenen Regeln gibt. Narr-Schubert sehen hingegen die Probleme nicht in der Realisierung globaler politischer Strukturen, sie wenden sich grundsätzlich und vehement gegen einen Weltstaat. Welt-staatsphantasmen aller Art führten in die Irre, das kosmopolitische Individuum sei eine Fiktion. Weltstaatskonzepte, wie sie sich bei Elias, Habermas, Knieper und anderen finden, führten zur Entstehung eines Ungetüms, eines Despoten, wie es nie einen gegeben hat. Im Anschluß an Kant plädieren sie für eine föderale Weltordnung auf der Rasis von Demokratie und Menschenrechten, grundsätzlich ein achtbarer Ansatz, der sich aber dem Problem der Zerstörung politischer Gestaltungsmacht nicht ernsthaft stellt und der daher dem auch bei Narr-Schubert eindrucksvoll beschriebenen Totalitaris-mus der Märkte nichts entgegenzusetzen hat.

Für Martin-Schumann hat Europa in dieser Situation eine historische Chance. Ihre Diagnose über den derzeitigen Zustand der EU ist aber vernichtend. Diese sei keine handlungsfähige politische Einheit, das bisherige EU-Projekt sei ein undemokratisches Monstrum der Technokratie und daher keine Zukunftsalternative zu den Nationalstaaten. Eine der wesentlichen Ursachen dafür sei die bizarre Verfassung der EU. Diese führe immer dann zu einem Versagen der europäischen Politik, wenn sich die Regierungen nicht einig sind. Eine sinnvolle Umwelt-, Sozial- und Steuerpolitik finde daher auf europäischer Ebene nicht statt. Andererseits können die nationalen Parlamente der destabilisierenden Kraft der Märkte nicht mehr entgegentreten. Aus der wirtschaftlichen Verflechtung seien bisher nicht die Vereinigten Staaten von Europa entstanden, sondern ein Markt ohne Staat. Der Reformstau werde daher unerträgliche Ausmaße annehmen. Dies bereite jenen Populisten den Weg, die ihren Wählern versprechen, die Politik ließe sich renationalisieren.

Abhilfe erwarten Martin-Schumann von qualifizierten Mehrheiten und Öffentlichkeit im Ministerrat, von einer Parlamentarisierung der EU und letztlich von einem europäischen Rundesstaat. Politische Allianzen würden sich dann nicht mehr an den Staatsgrenzen, sondern an Interessenlagen orientieren. Fazit: Nur eine demokratisch legitimierte EU könne die destruktiven Kräfte der Märkte bändigen.

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