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Das Wahlsystem der freien Liste

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Das Wesen der Demokratie ruht in zwei Grundelementen: erstens in einer Summe von Freiheiten und zweitens in einer Methode, eine möglichst große Zahl von Staatsbürgern an der Staatswillensbildung teilnehmen zu lassen. Daher eröffnet in der Regel jede geschriebene Verfassungsurkunde der modernen Gesetzgebung ein Katalog der verfassungsmäßig gewährleisteten, der sogenannten Grund- und Freiheitsrechte. Ihnen kommt meist nur im Zeitpunkt der Inartikulierung Bedeutung zu; später werden sie zur Selbstverständlichkeit, ja, in gewissen Ländern sind manche einfach kraft Gewohnheit seit unvordenklichen Zeiten in Geltung und wirken aus der inneren Überzeugung des Staatsvolkes heraus.

Anders steht es um die Anteilnahme an der Staatswillensbildung; sie muß fast ausnahmslos durch sorgfältige Satzungen geregelt werden; hinter ihr steht eben der Motor aller Geschichte: die Macht. Der demokratische Gedanke muß es zu seiner unabdingbaren Forderungen erheben: die im Staat herrschende Macht muß die im Volk lebenden Kräfte vereinen, die vorwärtstrei- benden und die retardierenden, hemmenden in einen gemeinsamen Strom lenken. Die darin sich ausdrückende Ordnung erst erhebt den Staat zu einem demokratischen Staat. Nur wo eine solche Ordnung waltet, daß alle Staatsbürger, die zufolge ihrer Vernunft und ihrer Moral dazu befähigt sind, tatsächlich an der Staatswillensbildung Anteil haben, kann al eine Ordnung der Freiheit angesehen werden. Ausgeschlossen dürfen daher nur die Minderjährigen die Geisteskranken und die Verbrecher werden. An sich würde es daher der Grundsatz der Freiheit .verlangen, daß nicht als Gesetz erklärt wird, wozu nicht alle ihre Stimme abgegeben haben. Weil aber die menschliche Verschiedenheit eine völlige Übereinstimmung aller praktisch nicht erreichen läßt, muß der Mehrheit das Recht eingeräumt werden, daß ihr Wille als der Gesamtwille anerkannt wird. Dabei wird die menschliche Klugheit gebieten, daß sie sich selbst Schranken attferlegt und auf die Minderheit Rücksicht nimmt, um die möglichste Eintracht herzustellen. — Diese Form der Demokratie, die sogenannte unmittelbare, ist zwar für moderne Großstaaten in weit ausgedehnterem Maße möglich, als sie vielfach zur Anwendung kommt — von Volksabstimmungen könnte in weit größerem Maße Gebrauch gemacht werden —, für die gewöhnliche Gesetzgebung hingegen muß zum Mittel der Stellvertretung, der sogenannten Repräsentativdemokratie gegriffen werden. In ihr ist die Staatswillensbildung e i n e r durch Wahlen berufenen Volksvertretung überantwortet. Diese aber kann sich nur dann als echte Demokratie bezeichnen, wenn die Gewählten tatsächlich von den Wählern ausgewählt sind. Diese Auswahl setzt voraus, daß der Wähler entweder seine Stimme einer Person geben kann und unter beliebig vielen Personen die seines Vertrauens bestimmen darf, die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheidet, wem das zu vergebende Mandat zufällt, oder aber der Wähler entscheidet mit seiner Stimme über eine Anzahl von Mandaten, und ihre Aufteilung erfolgt im Verhältnis zu den Zahlen der für die wahlwerbenden Parteien abgegebenen Stimmen. Stets müssen wenigstens zwei Parteien vorhanden sein, sonst findet keine Wahl statt, sondern eine Abstimmung, die ein Bekenntnis beinhalten mag, mehr aber nicht.

Es ist kein Zweifel, ein solches Wahlrecht, das die verschiedenen politischen Strömungen, die in der Bevölkerung vorhanden sind, stärkemäßig zum Ausdruck bringt, und die sie tragenden Bevölkerungsgruppen an der Staatswillensbildung anteilmäßig beteiligt, wie das Proportionalwahlrecht, ist das demokratischeste, gerechteste und zweckmäßigste. Es verliert aber diese Vorzüge, wenn es zwar auf der einen Seite die Aufteilung der Machtanteile genau dem Proporz entsprechend vornimmt, auf der anderen Seite aber die Einflußnahme des Wählers auf die Bestimmung der Mitglieder der Volksvertretung ausschließt, wie dies das in Österreich seit 1919 übliche System der gebundenen Liste tut. Es gestattet dem Staatsbürger bloß eine Partei unter mehreren zu wählen. Die Namen der Kandidaten selbst stehen nicht auf dem Stimmzettel, er muß sie aus den Zeitungen entnehmen oder von Maueranschlägen ablesen. Auf die Auswahl der Personen selbst hat der Wähler keinen Einfluß. Daran wird auch dadurch nichts geändert, daß die Aufstellung der Kandidaten durch Bezirks- oder Kreisversammlungen erfolgt, in denen die Parteifunktionäre zu der Auswahl der Kandidaten Stellung nehmen können, denn das wirkliche Auslesegeschäft besteht nicht in der Aufstellung der Kandidaten, sondern in deren Reihung.

Der Mangel an Einfluß des Wählers auf die Reihung ist die Ursache, daß eine bestimmte Schichte der Wählerschaft ständig und regelmäßig bei jeder Wahl zu Hause bleibt. Es handelt sich dabei um ungefähr zehn Prozent durchaus politisch interessierter Menschen, die schlechterdings nicht zu bewegen sind, das System der starren Liste zu akzeptieren. Es besteht kein Zweifel, daß dieses System das „einfachste und bequemste ‘ ist. Es ist aber auch zweifellos ein „undemokratisches und persönlichkeitsfeindliches Wahlrecht, denn es verlagert die Auswahl der Personen von der Wählerschaft weg zu den Parteiinstanzen und Parteisekretariaten. Nicht zu unterschätzen ist, daß dieses System auch in hohem Maße die Gefahr birgt, starke Persönlichkeiten und wirkliche Begabungen vom politischen Leben auszuschließen und Mittelmäßigkeiten überwuchern zu lassen. Es ist aber gerade die Aufgabe einer echten Volkspartei, Persönlichkeiten an die Staatsführung zu bringen und der Verflachung und Vermassung zu begegnen.

Gegen eine Änderung des Systems der starren Liste pflegte man bisher den Einwand zu erheben, das freie Listenwahlrecht sei außerordentlich schwierig, es stelle an den Wähler unerfüllbare Forderungen und mache die Feststellung des Wahlergebnisses, das sogenannte Skrutinium, unerträglich kompliziert und zeitraubend.

Ich habe schon vor 20 Jahren eine Methode aufgezeigt, nach der es auch dem einfachsten Wähler leicht möglich ist, das Auswahlgeschäft zu treffen und bei der auch das Skrutinium in verhältnismäßig kurzer Zeit durchgeführt werden kann. Der Vorgang ist sehr einfach. Der Stimmzettel trägt außer der Parteibezeichnung auch d i e Namen der Kandidaten in der Reihenfolge, wie die Partei sie der Wählerschaft empfiehlt. Es steht aber dem Wähler frei, Kandidaten zu streich e n, diese Stimmzettel zählen zwar für die Partei, aber nicht für den gestrichenen Kandidaten. Außerdem steht es dem Wähler frei, durch Beisetzen von Ordnungszahlen die Reihung abzuändern und in der von ihm gewünschten Weise kenntlich zu machen. Wenn in einem Wahlkreis vier Mandate zu vergeben sind, so werden, um auch Ersatzleute zu haben, doppelt so viel Kandidaten aufgestellt, also acht. Der Wähler wird nun neben jeden Kandidaten die Ordnungszahl schreiben, die er jedem Kandidaten gegeben wissen will. Läßt er den Stimmzettel unverändert, so erklärt er sich mit der parteiamtlichen Reihung einverstanden. Dies bewirkt, daß dem Letztgereihten 1 Punkt, dem Vorletzten 2 Punkte, dem Drittvorletzten 3 Punkte, dem Viertletzten 4 Punkte, dem Fünften unter den acht 5 usw. und dem Erstgereihten 8 Punkte angerechnet werden. Wären zehn Kandidaten aufgestellt, weil fünf Mandate zu vergeben sind, würde der Erstgereihte eben 10 Punkte erhalten, der Zweitgereihte 9, der Drittgereihte 8 usw., der Letzte wiederum 1 Punkt. Es wird wohl niemand behaupten, daß unsere Wählerschaft wirklich nicht fähig wäre, auf diese Weise ihren Willen zum Ausdrude zu bringen.

Das Skrutinium ist nun in zwei Vorgänge zu teilen. Zunächst wird wie bisher, die Zahl der für jede Partei abgegebenen Stimmzettel festgestellt und nach diesen Stimmzahlen wirjd die auf iftde Partei entfallende Anzahl der Mandate errechnet. Ist dies geschehen, wird durch Feststellung der Punktezahl, die auf jeden Kandidaten entfallen ist, errechnet, wer gewählt erscheint. Das erste Skrutinium kann wenige Stunden nach Schluß des Wahlganges ganz wie bisher durchgeführt sein und man wird noch in den ersten Nachtstunden des Wahltages wissen, wie viele Mandate auf jede Partei entfallen. Einen längeren Zeitraum, etwa von einigen Tagen, wird die Feststellung in Anspruch nehmen, welche Personen gewählt sind.

In dem zweiten Vorgang des Skrutiniums werden zunächst die nichtveränderten Stimmzettel für jeden Kandidaten jeder Partei punktemäßig ausgewertet werden. Es ist eine Erfahrung, der Länder, in denen ähnliche Systeme schon eingeführt worden sind, daß nur etwa 15 Prozent der Wähler von dem Recht der Veränderung des Stimmzettels Gebrauch machen. Die punktemäßige Auswertung wird sich daher beim größten Teil der Stimmzettel sehr nasch durch einfache Multiplikationen ergeben. Lediglich bei jenem geringen Teil der Stimmzettel, die Veränderungen aufweisen, wird durch Berechnung der Punkteanzahl jedes Kandidaten ein langsameres Skrutinium zu beobachten sein. Aber auch hier gilt, daß wer nur die einfachen Grundoperationen des Rechnens beherrscht, das Skrutinium mühelos vornehmen kann. Denn im wesentlichen hat ja nichts zu geschehen, als daß die Punkteanzahl für jeden Kandidaten addiert wird. Sind die Punkteziffern gewonnen, werden die Kandidaten in der Reihenfolge der Größe ihrer Punktezahlen untereinander geschrieben, wobei die größte Zahl an die Spitze und die kleinste an den Schluß zu verweisen ist. Je nachdem, wie viele Mandate auf eine Partei entfallen sind, sind die vorderen der so gereihten Kandidaten gewählt, die nachfolgenden Ersatzmänner — Totenpasser, wie im bisherigen Wahlrecht auch!

Die österreichische Volkspartei, in der Staatssekretär Graf und Bundesminister Dr. Hurdes die zähen Vertreter einer solchen Reform wurden, hat dieses System eines Proportionalwahlrechtes mit gelockerter Liste zu ihrer Forderung erhoben. Falls sich der Innenminister nicht dazu entschließen könnte, es in den Regierungsentwurf für das Wahlgesetz zu den Wahlen im kommenden Jahr einzubauen, liegt der Parteileitung der ÖVP ein entsprechender Initiativantrag zur Einbringung im Parlament vor. Dieser wird, einem Vorschlag, der aus Vorarlberg stammt, entsprechend, noch eine Verbesserung an diesem System anbringen: es wird dem Wähler freigestellt werden, an den offiziellen Parteivorschlag noch einen Kandidaten anzureihen, das heißt, die letzte Stelle auf dem Stimmzettel ist freigelassen und es ist dem Wähler überantwortet, auf diese Stelle den Namen einer wählbaren, im Wahlkreis wohnenden Person zu setzen. Selbstverständlich wird der Wähler bei der Reihung auch diesem Kandidaten ftine Ordnungszahl geben können und je nach der Ziffer, die er ihm gibt, wird auch dieser Kandidat bei der Punkteberechnung berücksichtigt werden. Sicherlich wird nicht jeder, der auf diese Weise Stimmen erhält, auch ins Parlament kommen. Aber es kann kein Zweifel sein, handelt es sich dabei um eine wirklich populäre Persönlichkeit, an deren Wahl eine breite Schichte der Wählerschaft des Wahlkreises interessiert ist, wird auf diese Weise die Möglichkeit gegeben sein, ihr den Weg in die Politik frei zu machen.

Dieses System verbürgt, daß keine Stimme der Partei, der sie zugedacht war, verloren gehen kann, aber es verbürgt auch größtmögliche Freiheit des Wählers und gerechte Verteilung der Mandate an Personen im Sinne des Willens der Wählerschaft. Die Persönlichkeit, die durch das System der starren Liste völlig in den Hintergrund getreten war, wird auf diese Weise wiederum in das Blickfeld des Wählers gestellt werden. Dies wird einen erfreulichen und bedeutenden Fortschritt bedeuten. Unser Volk istdurchaus befähigt, sich seine Vertreter selbst auszuwählen. Das Wahlrecht ist dis Quelle des Staatswillens. Ihr Ursprung muß der Wille — nicht der Parteiführungen, nicht der Partxeikanzleien —, sondern einzig und allein der Wille des Volkes sein.

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