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„Das Wiedererstehen Europas ist unvermeidlich

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FURCHE: Halten Sie es für richtig, was Prof. Kissinger, der Berater Präsident Nixons, behauptet, daß nämlich die USA und die Sowjets zwar militärisch und technologisch noch bipolare Vormachtstellung genießen, nicht mehr aber politisch? OTTO HABSBURG: Ich glaube, daß diese These vollkommen richtig ist. Während zweifellos militärisch durch das Gleichgewicht des Schrek-kens Bipolarität besteht, hat sich die politische Situation der Sowjetunion durch das Aufsteigen Chinas, besser gesagt durch die rapide Entwicklung Chinas zur Supermacht, grundlegend geändert. Politisch ist die Situation Rußlands wesentlich schwieriger als jene Amerikas, und deshalb wird man sehr bald nicht mehr von einer solchen politischen Bipolarität sprechen können. FURCHE: Sie schreiben in Ihrem Buch „Europa — Großmacht oder Schlachtfeld“, daß das Wiedererstehen Mitteleuropas unvermeidlich sei. Halten Sie diese These auch

nach dem 21. August 1968 aufrecht? OTTO HABSBURG: Ich würde sogar sagen: Mehr noch als bisher. Erstens einmal, well das ganze tschechische Ereignis eine vorübergehende, relativ kurze Phase darstellt. Zweitens haben wir die grundlegend verschiedene Behandlung Rumäniens und der Tschechoslowakei gesehen, weil ja Rumänien glaubhaft gemacht hat, daß es sich im Falle einer Agression wehren würde, während von Seiten Prags genau das Gegenteil erfolgt ist. Wir können also ziemlich genau erkennen, bis zu welchem Punkt heute die Sowjetunion in Zentraleuropa zu gehen bereit ist. Und drittens, wie ich schon in Beantwortung der Frage bezüglich Kissingers gesagt habe, erscheint es als ziemlich zwangsläufig, daß sich die politische Position, also auch die Fähigkeit, in Mitteleuropa Druck auszuüben, für die Sowjetunion mit dem Aufstieg Chinas wachsend verschlechtern wird.

FURCHE: Meinen Sie also, daß die Verteidigungsbereitschaft der entscheidende Punkt ist, an welchem die Sowjets zurückweichen? OTTO HABSBURG: Ja, die Sowjets können heute in den kritischen Gegenden, übrigens genauso wie die

Amerikaner, keinen Krieg mehr riskieren, dürfen in keine Eskalation mehr hineingeraten, die zu jenem Punkt führt, von wo man nicht mehr zurück kann. Die Großmächte sind an den neuralgischen Stellen überaus vorsichtig.

FURCHE: Die Rumänen haben aber in einigen Punkten den Sowjets nachgegeben.

OTTO HABSBURG: Alles läuft natürlich auf ein Kompromiß hinaus. Ich würde aber sagen, daß die Rumänen in der Grundlinie, was zum Beispiel die rumänische Haltung in der Außenpolitik betrifft, weiter einen sehr eigenwilligen Kurs eingeschlagen. In der Innenpolitik hingegen waren sie immer schon sehr konventionelle Kommunisten, ich würde beinahe sagen: Stalinisten. FURCHE: Wie hätte sich der Westen, insbesondere die NATO, in der tschechischen Krise verhalten sollen? Haben sie sich richtig verhalten? OTTO HABSBURG: Der Westen Europas hat sich aus sehr tiefliegen-

den Gründen total falsch verhalten: Hätten wir nämlich ein geeintes Europa gehabt — mich interessiert die NATO in diesem Zusammenhang nicht —, so wären die Prager Ereignisse zweifellos gar nicht eingetreten. Ich glaube, das kann man heute schon mit einer gewissen Sicherheit behaupten. Was allerdings die NATO betrifft, muß man heute einen gewissen Skeptizismus gegenüber ihrer Wirkungsmöglichkeit anmelden. Die NATO ist schließlich nichts anderes, wenn man ihren militärischen Aspekt betrachtet, als eine Integration auf jenen militärischen Gebieten, die eigentlich uninteressant sind, während in entscheidenden Belangen die nationale Verfügungskraft voll aufrechterhalten wird. Ich sehe im Atlantikpakt, als einem politischen Instrument, Möglichkeiten, aber als einer militärischen Organisation stehe ich der NATO relativ skeptisch gegenüber.

FURCHE: Sie sind für forcierte Kontakte mit den Menschen und den Regierungen im Satellitenfeld Moskaus. Nun haben nicht zuletzt diese Kontakte dazu geführt, daß die Sowjets befürchten mußten, die Tschechen könnten aus der Reihe tanzen. Wie soll man aus diesem

Teufelskreis auch in Zukunft herauskommen?

OTTO HABSBURG: Ich glaube, die Weltereignisse selbst werden uns aus dem Teufelskreis herausholen. Einmal dadurch, daß nach memschlicher Voraussicht die polyzentrischen Kräfte einen gewaltigen Auftrieb durch die Ereignisse in Sibirien erhalten werden, und zwar nicht nur im antikommunistischen, sondern auch und ebenso im kommunistischen Bereich. Es ist ja geradezu frappant, zu sehen, wie führende Kommunisten Mitteleuropas heute schon Befürchtungen darüber aussprechen, daß sie durch die Sowjetunion in einen neuen „algerischen“ oder „vietnamesischen“ Konflikt in Sibirien hineingerissen werden könnten. Diesbezüglich besteht eine sehr ernste und tiefe Sorge in den führenden kommunistischen Kreisen. Ich glaube, daß die Möglichkeiten sehr groß sind, die sich allein aus der Entwicklung der nächsten drei Jahre ergeben werden. Und darüber hinauswäre zu sagen: die von Ihnen erwähnten Westkontaktp. ja sogar der politische Aspekt der tschechischen Ereignisse, hatten eine verhältnismäßig geringe Rolle gespielt im Gegensatz zu den militärischen Erwägungen, die übrigens nach meinem Dafürhalten antiquiert waren. Die polnischen Kreise im Kreml waren offensichtl'ch nicht begeistert von den militärischen Operationen gegen Prag, sonst ließe es sich nicht erklären, wie es kam, daß militärisch die Operationen im konventionellen Sinne gut geführt waren, während die politische Operation wesentlich schlechter war, als seinerzeit in Budapest. FURCHE: Könnte es aber nicht so sein, daß die Sowjets ein latentes Interesse daran haben, sich gerade durch eine Verwicklung in-. Asien die“ Europafrortt ruhig zu halten, daß sie also bereit sind, in jedem anderen Land Osteuropas die tschechischen Vorfälle zu wiederholen, eben um sich diese Ruhe zu erkaufen? OTTO HABSBURG: Ja, auf einer Seite kann man vielleicht von Ruhe sprechen, auf der anderen Seite können gerade solche Ereignisse zu einer großen Verschärfung der Spannung führen. Ich glaube übrigens, daß die Sowjets noch größere Sorgen wegen des Versuches, den Kommunismus links zu überholen, der heute gerade in den freien Staaten Westeuropas unternommen wird, haben werden, weil das für sie eine viel gefährlichere zweite Front Ist als alles, was sich in den zentral-europäischen Ländern abspielen kann. Die wirkliche Gefahr für die Russen ist heute jene maoistische Tendenz, die sich bei gewissen Studentenunruhen in den europäischen Hauptstädten klar gezeigt und erstmalig die Kommunisten in die Defensive gedrängt hat. Die Kommunisten werden durch diese Bewegung geradezu zum Establishment gemacht.

FURCHE: Zurückkommend auf die tschechischen Ereignisse: Würden Sie sagen, daß Österreich sich während der Augusttage des Vorjahres richtig verhalten hat?

OTTO HABSBURG: Ich würde sagen: zweifellos hat gerade der Osterreichische Rundfunk und das Osterreichische Fernsehen mit seiner objektiven Berichterstattung dei Welt einen ganz großen Dienst erwiesen, der auch allgemein anerkannt wurde.

FURCHE: Glauben Sie, daß es im August des Vorjahres eine militärische Gefahr für Österreich gegeben hat?

OTTO HABSBURG: Ich glaube nicht, daß die Russen auch nur einen Moment lang daran gedacht haben, die österreichischen Grenzen zu überschreiten. Wie ja alle diese Gedanken, sie könnten ein sogenanntes Ostösterreich reokkupieren, nach meinem Dafürhalten abwegig sind. Die Russen werden sich auf alle Fälle streng an die Jaltalinie halten, weil sie heute gar kein Interesse an einer Konfrontation haben und Osterreich nun einmal durch die

Jaltalinie auf die westliche Seite geschlagen worden ist. Wären wir nicht auf die westliche Seite geschlagen worden, hätten wir überhaupt keine Regierung in Wien bekommen, dann wäre geschehen, was in Berlin geschehen ist.

FURCHE: „Jaltalinie“ würde allerdings die Enns bedeuten. OTTO HABSBURG: Nein. Die Jaltalinie hat immer die österreichischen Grenzen bedeutet. Die Ennslinie war nichts als eine zweiteilige Okku-pationslinie.

FURCHE: In Berlin versuchen die Russen allerdings, mit ihren Verbün-

deten, der sogenannten DDR, die Jaltaformel zu durchlöchern. Sie bezeichnen die sogenannte DDR als Mitteldeutschland. Bleiben für Sie die polnischen Westgebiete Ostdeutschland?

OTTO HABSBURG: Das läßt sich natürlich heute noch nicht klar sagen. Ich glaube, daß noch sehr viele Dinge gerade in einem europäischen Rahmen behandelt werden müssen. Ich spreche von Mitteldeutschland, wie ich von Mitteleuropa spreche. Wir sollten uns nicht

unsere Diktion von anderen aufzwingen lassen. Einer der größten geistigen Triumphe der Sowjets war es, zu erreichen, daß es ein Ost- und Westeuropa gegeben hat. Gerade wir Österreicher sollten aber immer wieder auf die Rolle Mitteleuropas zu sprechen kommen, weil es ohne Mitteleuropa immer wieder eine Aufteilung Europas in zwei Einflußsphären und deren Aufeinanderprallen geben wird.

FURCHE: Nun ist natürlich die Frage Mitteldeutschlands, wie Sie es bezeichnen, und der deutschen Ostgebiete im heutigen Polen Anlaß für die latenten Spannungen in Mitteleuropa.

OTTO HABSBURG: Wenn es eine europäische Einigung gibt, an der auch Polen Anteil hat, wenn wir schließlich vom alten nationalistischen Konzept überhaupt abkommen, wenn wir insbesondere ein Konzept der nationalistischen Epoche des 18. und 19. Jahrhunderts ausräumen, das nach meinem Dafürhalten

am meisten zur Vergiftung der zwischenstaatlichen oder zwischenvölkischen Verhältnisse beigetragen hat, dann können diese Probleme gelöst werden. Das Prinzip, daß es auf einem Territorium nur eine einzige Souveränität geben kann, daß nicht die Möglichkeit besteht, daß sich Menschen auf einem und demselbem Territorium je nach ihrem Wunsche mehr zu dieser Gruppe oder mehr zu jener Gruppe mit allen Konsequenzen bekennen können, muß zu Fall gebracht werden.

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