Das Zimmer der Vergangenheit

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dieFurche: Sie unterrichten Geschichte in Moskau seit 1991. Gab es in der kommunistischen Ära Möglichkeiten, an ideologisch ungefärbte Information heranzukommen?

Irina Scherbakowa: Es gab in der Sowjetunion nicht viele Möglichkeiten, irgend etwas über die Vergangenheit zu erfahren. Wir waren fest davon überzeugt, daß sich in unserem Land die Archive nie öffnen würden. Mündliche Information war also neben der Literatur - manchmal wurden in der poststalinistischen Ära ja Bücher veröffentlicht, von denen man nie vermutet hätte, daß sie an die Öffentlichkeit kommen würden - unsere einzige Geschichtsquelle. Daher habe ich ab Ende der siebziger Jahre einfach für mich angefangen, Interviews zu machen. In erster Linie mit Opfern des Gulags. Das war das schwarze Zimmer unserer Vergangenheit. Das wichtigste in unserer Geschichte dieses Jahrhunderts geschah zweifellos 1917, als die Bolschewiken die Macht ergriffen. Alles andere ergab sich daraus. Wie wir wissen, hat sich diese Diktatur behauptet. In den siebziger Jahren aber kam es zu einem sehr starken ideologischen Zerfall, zu einem Verfall im Bereich der Landwirtschaft, zu einer von Versorgungsschwierigkeiten gekennzeichneten Alltagsmisere. Seit damals verschärfte sich die wirtschaftliche Krise - bis 1991. Herbst und Winter 1991, vor der Freigabe der Preise, war dann die Situation absolut katastrophal. In den Geschäften gab es fast keine Lebensmittel mehr, eine Situation fast wie in den Zeiten des Krieges.

dieFurche: Wie hat die Bevölkerung diesen Zustand ertragen?

Scherbakowa: Die Folge war ein absoluter Umbruch. Ab 1987, bis 1991. Wir hatten es mit einem Zerfall des Systems zu tun. Das war nicht eine Steuerung von oben. Das Verdienst von Gorbatschow war, daß er das abgefedert hat. Wir haben ihn am Anfang sehr begrüßt, uns dann aber sehr geärgert: alles ging so langsam vor sich, ewig wurden Kompromisse geschlossen. Im nachhinein betrachtet, war das vielleicht gar nicht so schlecht. Denn es war alles ganz morsch - mehr als selbst wir, die wir uns mit Geschichte beschäftigten, es uns vorgestellt hatten. Nach den Ereignissen in Prag 1968 sind alle Hoffnungen, man könne den Kommunismus reformieren, erloschen. Von da an machte sich eine große Resignation breit. Damals war es ganz alltäglich, egal, wo man war, überall wurde darüber geredet, wie schlimm alles war. Im Gegensatz zur DDR wurde ziemlich offen über all das gesprochen, man hatte kaum Angst. Das ist auch die Zeit der Dissidenten gewesen. Untergrundzeitungen wurden verbreitet. Der Glaube an die Verheißungen des Systems war verlorengegangen. Es war die Blütezeit der Witze - diesbezüglich könnte man direkt nostalgisch werden, denn heute gibt es keine Witze mehr.

dieFurche: Führte diese Stimmung zu Aufbruch oder Resignation?

Scherbakowa: Zu Resignation. Der massive Alkoholismus brachte sie zum Ausdruck. Alkoholismus war zwar immer schon ein Problem in Rußland. In den siebziger Jahren wurde er aber zu einer Massenerscheinung. Dazu kam die Unlust zu arbeiten - ganz im Gegensatz zu den dreißiger Jahren, wo eine Generation mit viel Elan am Werk war. Im Land machte sich das Gefühl breit, es zerfalle alles. Keiner konnte sich allerdings vorstellen, daß es zu einem solchen Bruch des Systems kommen würde, wie wir ihn erlebt haben.

dieFurche: Wieso sprechen Sie dann aber von Revolution, wenn doch alles in Resignation versank?

Scherbakowa: Sicher war die Situation anders als in Polen. Es gab ja keine Solidarno's'c. Dennoch blieb das Gefühl, daß sich etwas zu lockern beginnt, nicht ohne Folgen. Das war nach dem Ende jener makabren Zeit, in der innerhalb kürzester Zeit Breschnew, Andropow und Tschernenko - alle senil - gestorben sind. Jedes Kind im Land konnte beispielsweise Breschnews Art zu reden verulken. Die Macht war irgendwie lächerlich geworden. Der Afghanistankrieg trug auch dazu bei. Die begrenzten Möglichkeiten der Armee wurden offenbar. Alle Dörfer des Landes bekamen das mit. Überallhin kamen die Särge der Kriegsopfer. Sie waren für nichts gestorben. Das brachte die Stimmung des Volkes gegen die Führung auf.

dieFurche: Wie artikulierte sich dieser Stimmungswandel?

Scherbakowa: In der Zeit der beginnenden Glasnost begann die Blüte des Journalismus. Da gab es die Zeitung "Argumente und Fakten" mit einer Auflage von mehr als 20 Millionen! Man wollte endlich die Fakten wissen. Es wurde ja so viel gelogen. Damals entwickelten sich sehr idealistische Vorstellungen von der Demokratie. Der Westen wurde - im Gegensatz zu heute - sehr idealisiert gesehen. Wir hatten ja keine parlamentarische Tradition.

dieFurche: Also ein Aufbruch der Hoffnung?

Scherbakowa: Ja. Er hat von 1987 bis zum Augustputsch 1991 angehalten und alle sowjetischen Mythen zerstört: Die Revolution 1917 wurde als bolschewistischer Putsch entlarvt, die Person Lenins der Glorie entkleidet, die Verbrechen Stalins entpuppten sich als schlimmer als jene Hitlers. Eine für die russische Mentalität typische Entwicklung trat ein: Die Selbstkritik nahm enorme Ausmaße an; man war auf nichts mehr stolz.

dieFurche: Worauf richteten sich von da an die Bestrebungen?

Scherbakowa: Auf Abschaffung des Ein-Parteien-Systems, Auflösung des KGB, Abhaltung freier Wahlen und Einführung des Parlamentarismus. Es gab die ersten Wahlen. Und als man das Gefühl bekam, die Entwicklung stagniere, marschierten Millionen in den Straßen. Erstmals erlebte ich, daß das Bewußtsein der Menschen auch politisch etwas bewirkte. Die Macht wich - obwohl zwischendurch immer wieder versucht wurde, zurückzuschlagen - langsam aber sicher zurück.

Das Gespräch führte Christof Gaspari.

Irina Scherbakowa ist Dozentin an der Russischen Staatlichen Universität in Moskau. Derzeit wirkt sie als Gastdozentin am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.

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