atommächte - © APA

Das zweite Atomzeitalter ...

19451960198020002020

Der Atomwaffensperrvertrag wird zunehmend löchriger. Willkommener Anlass für viele Staaten, nach einem "atomaren Selbstschutz" zu greifen.

19451960198020002020

Der Atomwaffensperrvertrag wird zunehmend löchriger. Willkommener Anlass für viele Staaten, nach einem "atomaren Selbstschutz" zu greifen.

Werbung
Werbung
Werbung

Den meisten reichen ein paar Kerzen auf der Geburtstagstorte, und auch ausgefallenere Charaktere geben sich mit einem Feuerwerk zufrieden - nicht so der nordkoreanische Diktator: Rechtzeitig zu seinem 63. Geburtstag am Mittwoch dieser Woche hat sich Kim Jong Il selbst das liebste Geschenk gemacht: eine Atombombe - angeblich, denn trotz der offiziellen Verlautbarung aus Pjöngjang, es habe "zur Selbstverteidigung gegen das kriegerische Gebaren der usa" Atomwaffen entwickelt, häufen sich die Kommentare, die Kims Drohung als großen Bluff darstellen, mit dem er nur seine Verhandlungsposition stärken wolle.

An erster Stelle in den strategischen Überlegungen Nordkoreas stehe der "Abschreckungsgedanke", sagt Walter Feichtinger, Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement der Landesverteidigungsakademie Wien: "Kim Jong Il hält mit einer Atomwaffe ein Pfand in seiner Hand, mit dem er seinen Akteursstatus weit über das tatsächliche Potenzial anheben kann." Der gleiche Abschreckungsgedanke, sagt Feichtinger, liege aber auch der amerikanischen Taktik zugrunde, "Atomwaffen im kleinen Stil nutzbar und damit eher einsatzfähig zu machen".

Wie im Kalten Krieg?

Abschreckung hier wie dort - Erinnerungen an den Kalten Krieg werden wach. Steuert das Atomzeitalter gar einem neuen Höhepunkt zu? Aufgepasst, meint Paul Bracken, Professor für Management und Politikwissenschaft an der Yale-Universität in New Haven, usa. Im neu erschienenen "Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 2004" warnt Bracken davor, die Zeit seit August 1945 bis heute als ein kontinuierliches Atomzeitalter anzusehen. Er unterscheidet zwischen Erstem und Zweitem Atomzeitalter (First and Second Nuclear Age), wobei er sich nicht darauf festlegen will, wann genau das Zweite begonnen hat. Wir sind jedenfalls schon lange mitten drin, diagnostiziert Bracken, und es sei dringend an der Zeit, mahnt er, sich von überholten Konzepten und Erklärungs- und Abrüstungsmodellen abzuwenden und den völlig veränderten Parametern des Zweiten Atomzeitalters zuzuwenden. Und was ist das völlig Neue am Second Nuclear Age?

Sieben neue Gefahren

Bracken nennt sieben Punkte:

  1. Das Second Nuclear Age ist nicht mehr bipolar, sondern multipolar, was die Komplexität stark erhöht und "mehr plötzliche Überraschungen" zeitigen kann.
  2. Die Atombombe hat existenzielle Bedeutung für die "neuen" Atommächte: "Israel und Nordkorea haben wenig gemeinsam. Aber sie teilen die Angst, über das Fortbestehen ihrer Staaten." Und auch die Regierungen in Pakistan, Indien oder Iran fühlen sich mit der Bombe um einiges fester im Sattel als ohne.
  3. Das Second Nuclear Age ist gekennzeichnet von einem "Netz aus Lügen", von Verschleierung und gegenseitiger Verdächtigung.
  4. Das Second Nuclear Age konzentriert sich auf Asien und auf vorwiegend sehr junge Staaten, in denen "Nationalismus und Nationalstolz in all seiner hysterischen Irrationalität eine viel größere Rolle spielen".
  5. Die neuen Atommächte sind Großteils eher arme Staaten.
  6. Know-how und Material für die Bombe sind leichter zu bekommen - und die Atombombe wird von mehr und mehr Staaten als Option in Erwägung gezogen.
  7. Und neben den staatlichen Akteuren strecken jetzt auch Terrororganisationen ihre Hände nach Atomwaffen aus - ein zusätzliches Gefahrenmoment, "das eine böse Situation in eine sehr böse Situation verändern kann".

Zusammenfassend meint Paul Bracken, das Zweite Atomzeitalter sei nicht mehr einfach und geradlinig wie das Erste - "und wir sollten davor auf der Hut sein" und an der Erarbeitung neuer, anderer Gegenkonzepte arbeiten, denn unsere früheren Strategien könnten unter den neuen Rahmenbedingungen bereits völlig nutzlos geworden sein.

Vielleicht hat auch uno-Generalsekretär Kofi Annan in Paul Brackens Beitrag geschmökert, bevor er vergangenes Wochenende auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu einer "globalen Anstrengung" aufgerufen hat, um eine "sturzflutartige Proliferation" von Atomwaffen zu verhindern: "Wenn wir jetzt nicht neue Maßnahmen ergreifen, werden wir uns vielleicht sehr bald einer solchen Sturzflut gegenübersehen", und der uno-Generalsekretär fügte hinzu: "Warten wir nicht, bis etwas ganz Schreckliches passiert, bevor wir gemeinsam gegen die Bedrohung vorgehen."

Atomwaffen-Sturzflut?

Sturzflut? Übertreibt Annan? Der Chef der Vereinten Nationen habe sicher eine betont drastische Ausdrucksweise gewählt, sagt Wernfried Köffler, der Leiter der Abteilung für Rüstungskontrolle im österreichischen Außenministerium. Doch wenn Durchlöcherung und Aushöhlung des Atomwaffensperrvertrags (NPT) so weitergehe, gibt Köffler Annan Recht, könne tatsächlich eine sturzflutartige atomare Aufrüstung eintreten: "Wenn der Schutz des Atomwaffensperrvertrags wegfällt, werden sich einige Staaten sagen, sie müssten sich nun selber schützen - mit Atomwaffen." Als mögliche Staaten, die nicht lange zögern würden, sich ein nukleares Waffenarsenal aufzubauen, nennt Köffler Japan und Südkorea, aber auch Syrien, Ägypten und Saudi-Arabien und eventuell Brasilien. Derzeit hätten jedenfalls zwölf Staaten schon die technische Möglichkeit, waffenfähiges Uran herzustellen. Um ein solches "free for all", einen solchen Quasi-Freibrief für alle Atomwaffenlobbyisten dieser Welt zu verhindern, sei die im Mai in New York stattfindende 6. NPT-Überprüfungskonferenz "so unendlich wichtig", sagt Österreichs oberster Abrüstungsverhandler. Sollte es dort nicht gelingen, das Iran-Problem zu lösen, und sollte Teheran, so wie schon vor zwei Jahren Nordkorea, aus dem Atomwaffensperrvertrag aussteigen, prognostiziert Köffler eine eher düstere Zukunft.

Strengere Ausfuhrkontrolle

Generell will Wernfried Köffler aber nicht nur ein schwarzes Bild zeichnen: Bei der Abrüstung seien Resultate "in den letzten Jahren sehr gering gewesen", sagt er, "dafür ist es seit den Terroranschlägen des 11. Septembers zu einer Effizienzsteigerung bei der Rüstungskontrolle und der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen gekommen". Strengere internationale Ausfuhrkontrollregimes würden es mittlerweile deutlich schwieriger machen, Waffen und Waffen-Know-how einzukaufen. Dass die illegale Weitergabe von nuklearem Wissen nach wie vor möglich ist, zeigt jedoch der Anfang letzten Jahres aufgeflogene Fall des "Vaters der pakistanischen Atombombe", Abdul Qadeer Khan, der Libyen, Iran und Nordkorea mit Nuklearwissen versorgt haben soll.

Als ein weiteres Kontrollorgan, das nach wie vor gut funktioniert und wichtige Arbeit leistet, nennt Köffler die in seiner Abteilung angesiedelte zentrale Kontaktstelle des "Haager Kodex". Zu diesem internationalen Verhaltenskodex bekennen sich 114 Staaten, die ihre Raketenstarts und Weltraumprogramme an alle anderen Mitgliedsstaaten weitermelden müssen - "um keine Panik auszulösen", sagt Köffler. "Vertrauensbildende Maßnahmen sind in diesem Bereich das A und O."

Genau an diesen vertrauensbildenden Maßnahmen lassen es aber gerade die Vereinigten Staaten in ihrer Atomwaffenpolitik fehlen. Längst vergessen scheint, dass sich Präsident George W. Bush einmal für den einseitigen Abbau des US-Atomwaffenarsenals stark gemacht hat: "Waffen, die wir nicht mehr brauchen", hatte er am 23. Mai 2000 in seinem ersten Wahlkampf erklärt, "sind kostspielige Überbleibsel aus überwundenen Konflikten." Die jetzige Bush-Politik geht hingegen eindeutig davon aus, dass sich die Verbreitung von Atomwaffen nicht durch Verträge, sondern am besten durch einen amerikanischen Angriff verhindern lässt.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung